Was man so Liebe nennt
Höchstwahrscheinlich ist sie mit Symptomen hergekommen, die auf einen Tumor in einem ihrer Stirnlappen hinwiesen. Am Brompton wurde ihr eine Gewebeprobe aus den Lymphknoten entnommen...«
Joe verstummte. Professor Dewars Gesicht nahm einen Ausdruck höflichen Interesses an.
»Wie gesagt, womit kann ich Ihnen...«, hob er wieder an und wedelte mit der Hand als Ersatz für das Wort »dienen«.
»Nun, ich habe mich gefragt, ob Sie mir vielleicht irgendwelche Informationen über die Patientin geben könnten.«
Professor Dewars Lächeln hielt sich weiter tapfer. »Und in welcher Beziehung stehen Sie zu Mrs. Carroll...«
Joe krampfte sich der Magen zusammen; aber was hatte er sonst erwartet?
»Ich kenne sie nicht.«
Joe fühlte sich plötzlich wie von einem Zentnergewicht niedergedrückt und wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Er hatte keine Ahnung, wie er über die Schweigepflichtmauer klettern sollte, die sich vor ihm aufbaute.
»Und... woher wissen Sie dann vor ihr?«
Joe hustete.
»Na, damit sollten Sie besser mal zum Arzt gehen«, sagte Professor Dewar. Joe nickte müde und beschloß dann, es einfach mit Ehrlichkeit zu versuchen. Auf dem Herweg hatte er sich mehrere Geschichten ausgedacht, aber angesichts der gönnerhaften Arroganz Professor Dewars stürzten ihm die Lügengebäude auf der Zunge ein.
»Mein Labor gehört zu jenen, an die der National Health Service Arbeiten vergibt. Die Biopsie wurde uns zugeschickt, damit wir sie auf Karzinom untersuchen.«
Professor Dewar runzelte die Stirn. »Die Biopsie wurde Ihrem Labor unter dem Namen der Patientin zugeschickt?«
Joe seufzte. »Nein, den habe ich herausgefunden, weil ich mich als Hacker betätigt und das Datennetz des Krankenhauses angezapft habe.«
Zum ersten Mal schien Professor Dewars Lächeln unter Druck zu geraten, jedenfalls wirkte es ziemlich gefroren. Aber dann holte er einen dicken Goldstift aus dem Innenfutter seines Jacketts und schrieb auf seinen Notizblock die Worte »Tessa Carroll« in Großbuchstaben und unterstrich sie. Dann unterstrich er sie noch mal. Ohne aufzusehen, sagte er: »Die Gewebeprobe war positiv, nicht wahr?«
»Ja.« Joe merkte, wie ihn ein Jetzt-oder-nie-Gefühl überkam. »Aber davon unabhängig — die Probe interessierte mich. Das Gewebe, das ich untersuchte, sah nach einem besonders bösartigen Non-Hodgkin-Lymphom aus. Ich hatte solche Fälle schon zuvor gesehen — zwar selten, aber sie sind mir in meiner Forschung schon begegnet. Besonders bei fortgeschrittener T-Zellenverminderung.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß diese Frau womöglich Aids hatte?«
Joe nickte.
»Und dieser Tumor als Folge davon auftrat?«
»Ja. Hätten Sie einen HIV-Test durchgeführt?«
Professor Dewar schüttelte den Kopf. »Nicht in dem Stadium. Wir hätten...«
Joe hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Welchem Stadium?«
»Nun, das, zu dem wir mit dieser Patientin gelangten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn ich mich recht erinnere...« Er stand auf, wobei die blutroten diamantförmigen Polsternägel seines Lehnstuhls zum Vorschein kamen, die seine breiten, vom Alter nicht gebeugten Schultern verdeckt hatten. Professor Dewar ging hinüber zu den schweren Eichenregalen an der hinteren Wand, auf denen in ordentlichen Reihen dicke schwarze Ordner standen, und holte einen heraus, in den die Buchstaben A-D geprägt waren, allen Ernstes geprägt:. Er befeuchtete delikat den Zeigefinger und blätterte durch die hauchdünen Seiten.
»...ja: Tessa Carroll hat mich zweimal aufgesucht: Einmal im März, im Royal Brompton — als wir einige Röntgenaufnahmen machten, die Gewebeprobe entnahmen und die Kernspintomographie durchführten — , und dann, eine Woche später, kam sie hierher wegen der Ergebnisse, die, wie Sie ja wissen, leider positiv waren.« Er schloß den Ordner. »Als sie das erste Mal kam, haben wir natürlich die übliche Blutprobe entnommen, hätten sie aber an dem Punkt nicht auf HIV untersucht.«
»Und danach...?«
Professor Dewar ging um seinen Stuhl und setzte sich wieder. »Es gibt kein Danach, fürchte ich. Nachdem ich ihr die Ergebnisse mitgeteilt hatte, habe ich sie nie wieder gesehen.« Joe zuckte innerlich zusammen. »Ich habe ihr die möglichen Behandlungsmethoden umrissen, und ich glaube, sie wurde sofort für eine Strahlentherapie vorgemerkt, aber sie ließ sich nie wieder blicken. Ich habe ihr fünf-oder sechsmal geschrieben, aber ohne Erfolg.«
Joe lehnte sich zurück; das Fenster hinter
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