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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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rätselhafteren Varianten den Vorzug zu geben: besonders dem Veitstanz, den er einmal einen ganzen Tag lang geprobt hatte, mit dem Hintergedanken, daß er auf diese Weise um sich schlagen und alle möglichen Leute wie aus Versehen treffen konnte. Außerdem hätte er damit einen großen Trumpf in der Hand, den er auf Parties ausspielen konnte, wenn ihm jemand mit diesen modischen, abstrakten und eindeutig uncoolen Krankheiten die Ohren volldröhnte.
    »...ja, ich habe wirklich ein entsetzliches Jahr hinter mir — ich leide an chronischem Erschöpfungssyndrom und bin nur noch müde — ich nehme an, du hattest das noch nie?«
    »Nein. Ich habe (geschrien) den Veitstanz!!«
    »Aua! Ja, das merke ich.«
    Aber sein Faible für den Veitstanz wurde an jenem Tag Mitte der 90er Jahre völlig übertrumpft, als er John’s Not Mad im Fernsehen sah, die Wiederholung eines Dokumentarfilms über John Davidson, einen jungen Burschen aus Galashiels mit Tourette-Syndrom. John’s Not Mad war zum ersten Mal in den frühen Achtzigern von BBC 2 ausgestrahlt worden. Vic sah also die Wiederholung des Films, der wohl der erste Dokumentarfilm dieses Typs war: das heißt einer von jenen, die man sich die ersten fünf Minuten mit ernstem Gesicht ansieht und einem Gefühl irgendwo zwischen Mitleid und Horror, und dann kann man plötzlich nicht mehr und bepißt sich vor Lachen. Der einzige andere Streifen, der John’s Not Mad das Wasser reichen kann, ist ein Dokumentarfilm mit dem Titel The Jarrow Elvis über eine Truppe geistig behinderter Elvis-Darsteller, die jeden Montagabend in einem Pub im Norden Englands auftreten.
    Auf Vic (der sich sowieso nicht mit jenen ersten fünf Minuten bemühter Ernsthaftigkeit aufhielt) hatte der Film eine etwas andere Wirkung. Er sah ihn und verliebte sich. Nicht in John Davidson, obwohl er merkte, wie seine Achtung und Bewunderung jedesmal um einen Grad stieg, wenn der arme verwirrte Junge seine Mutter eine »Hure in Sainsbury’s« schimpfte oder auf den Geburtstagskuchen seiner Schwester spuckte; er verliebte sich in die Krankheit. Sie hatte das Gezappel und Gemache vom Veitstanz, aber zusätzlich noch einen anderen fantastischen Pluspunkt — sie erlaubte einem, zu fluchen, zu schreien und ganz allgemein das zu tun, was in höchstem Maße Erregung öffentlichen Ärgernisses verursachte. Als Vic darüber nachlas — was er so schnell wie möglich tat; um zehn Uhr am nächsten Morgen sauste er zur Stadtbücherei von Sydenham runter, wobei er unentwegt spastisch mit den Armen schlenkerte und das Wort Arsch schrie — , stellte er entzückt fest, daß die Symptome spontanen Exhibitionismus mit einschlossen.
    Vic war — was inzwischen klar sein sollte — kein Hypochonder. Er hatte keine Angst vor Krankheit, er war ganz wild darauf (was, zugegebenermaßen Hypochonder vielleicht auch sind, aber nicht bewußt). Vic saß auch nicht zu Hause rum und beobachtete irgendwelche eingebildeten Symptome an sich. Trotzdem, nachdem er den Film gesehen hatte, begann er sich zu fragen, ob er — auf eine Art — vielleicht auch am Tourette-Syndrom litt.
    »Jeder hat es«, sagte er zu Joe, als er die letzten dampfenden Stücke von Chicken Dhansak aus der Silberschale auf seinen Teller löffelte. Sie hatten sich — wie damals jeden Donnerstag — im Spice of Sydenham getroffen.
    »Wie, jeder hat es?« fragte Joe und verteilte Aloo Gobi und Muttar Paneer sorgfältig in den verschiedenen Vertiefungen auf seinem Teller, damit das Ganze nicht zu einem scharf gewürzten Gemüsemansch verschmolz. Durch das Stimmengemurmel im Lokal hörte man eine indische Version von »Down Under« von Men At Work.
    »Hör mal, du hast den Film doch auch gesehen, oder nicht?«
    »Jaah...?«
    »Na, die Sachen, die der Junge macht. So was wollen wir alle machen.«
    »Ach ja?«
    »Na klar.«
    Joe, der sein Essen fertig arrangiert hatte, sah ihn an, und ihm fiel nicht zum ersten Mal auf, daß die Farbe von Vics Haar und Augen — jener Grad von Dunkelbraun, der praktisch nicht von Schwarz zu unterscheiden ist — genau die gleiche war. Im Augenblick war es noch auffallender als sonst, weil Vics Pupillen geweitet waren wie die einer Katze im Dunkeln — ob vor Aufregung über seine Theorie oder aus einem mehr chemischen Anreiz, wußte Joe nicht — und der Rand zwischen Pupille und Iris unsichtbar geworden war. Wenn Vic grau wird, dachte Joe, dann wird mehr als das Übliche verlorengehen.
    »Wir alle spüren doch die ganze Zeit in uns den Impuls,

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