Was man so Liebe nennt
Toten wissen gar nichts. Übrigens«, fuhr er fort und kehrte zu seinem Lieblingsthema des Abends zurück, »diese Tourette-Geschichte. Ich spür sie jetzt.« Er beugte sich über die von Kerzen erwärmte Platte zwischen ihnen und senkte die Stimme. »Weißt du, was ich jetzt im Augenblick schreien möchte?« Joe schüttelte den Kopf und beugte sich ihm verschwörerisch entgegen.
»Paki-Fotzen!« sagte Vic in abgehacktem Flüsterton.
» Vic ...« Joe wich zurück, und sein Gesicht, das sich schon zu einem Lächeln verzogen hatte, erstarrte. Das Aids-Gespräch war schon schwierig genug für ihn gewesen, aber das hier jetzt war zuviel. An der Warwick-Uni war Joe sehr political correct gewesen: Straight nannte man es damals, und, anders als in unseren postmodernen Zeiten, schämte man sich dessen nicht. Eher im Gegenteil, es war damals das Schlüsselwort für Glaubwürdigkeit. Jetzt, am Beginn einer neuen Dekade, hatte Joe gerade erst begonnen, einige dieser Überzeugungen neu zu überdenken — wie viele seiner Generation. Vic war nur schneller als die meisten. Die Grenzen dessen, was man als akzeptables Vokabular betrachtete, waren nicht mehr ganz so eng. Trotzdem war Joe bei dem Wort »Fotze« nicht ganz wohl, ließ es aber durchgehen, sich darüber im klaren, daß viele verpönte Ausdrücke mittlerweile rehabilitiert waren, aber »Paki« würde für ihn immer, so hoffte er, ein soziopolitisches Tabuwort bleiben. Daß es aus Vics Mund kam, war ein Schock für Joe und durchbrach seine Faszination für Vics Energie. Er sah auf die Uhr und bemerkte, daß es inzwischen 11.15 war.
»Komm, spiel jetzt nicht den Moralischen«, sagte Vic, während er sich zurücklehnte und seine Stimme zu normaler Lautstärke hob. »Ich bin kein Rassist. Das weißt du genau. Ich verabscheue alles, was mit Fremdenfeindlichkeit zu tun hat. Aber genau darauf will ich hinaus. Eigentlich liegen dir solche Sachen fern, objektiv willst du sie nicht tun — im Sinne von >Sachen, die ich heute unbedingt erledigen muß: (1) meinen Freund erstechen, (2) jemandem heißen Tee ins Gesicht schütten, (3) die Kellner im Spice of Sydenham beleidigen<.« Er machte eine Pause, um den Rest seines Biers auszutrinken. »Es ist nur so, daß die Räder in deinem Hirn ständig — gleich in welcher Situation — immer zuerst bei der Frage einrasten: >Was ist das Allerschlimmste, was ich in diesem Augenblick tun könnte?< In Wirklichkeit stellt es diese Frage nicht mal; es kommt gleich mit der Antwort an und steckt sie dir ganz vorn in den Kopf.«
»Na ja—«
»Plast du noch nie auf einer Klippe gestanden und sofort den Drang verspürt, dich hinunterzustürzen?«
»Doch.« Joe war sich nicht sicher, ob er dieses Gespräch wirklich fortsetzen wollte. Seine rechte Hand sank von seinem rechten Ohr herab.
Vic zuckte die Achseln. »Nun, genau davon rede ich. Darum geht’s.«
»Haben Sie noch einen Wunsch, meine Herren?« Der dickliche Kellner mit dem toupierten, gefärbten schwarzen Haar hatte begonnen, die Teller abzuräumen. Joe guckte auf die Dessertkarte: fünf Fotos von verschiedenen Sorbets in den ausgehöhlten Gehäusen der entsprechenden Früchte. »Nein, danke.«
»Was ich damit sagen will«, fuhr Vic unbeirrt fort. »Das Tourette-Syndrom gibt einem diese Impulse nicht ein. Es legt bloß den Teil des Hirns lahm, der sie in Schach hält. Leute mit Tourette-Syndrom können einfach nicht dagegen an, das zu tun, was all wir anderen auch die ganze Zeit tun wollen.« Er wickelte eins der dampfenden weißen Handtücher, die der Kellner ihnen gebracht hatte, aus der Plastikumhüllung. »Vielleicht schlinge ich mir das jetzt gleich um den Kopf und schreie >Oy! Wie gefällt Euch mein Turban?<«
Die Tür zum Spice ging auf. Beim Geklimper der Keralan-Glöckchen richtete sich Joe auf. Ein kalter Luftzug vertrieb den Currydunst. Joe drehte sich schnell um, und sein Gesicht hellte sich auf. Vic, der sich langsamer herumdrehte, stand noch die Scherzgrimasse im Gesicht. Es veränderte sich nicht. Warum sollte es? Die Frau, die gerade ihren Mantel auszog, hatte aschblondes Haar und gesprenkelte grüne Augen und angenehm symmetrische Gesichtszüge, wirkte aber ansonsten nicht bemerkenswert, was vielleicht daran lag, daß sie in Latzhosen erschien. Jetzt schien sie direkt in Joes Richtung zu lächeln, was bestimmt nur so aussah, dachte Vic, dem bei näherem Hinsehen auffiel, daß ihr Haar allen Ernstes oben auf dem Kopf mit einer Spange zusammengehalten war und ihr in
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