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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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etwas zu tun, das wirklich...« Vic suchte nach dem richtigen Wort.
    »...schrecklich ist?« schlug Joe vor und sah auf seine Uhr. Gleich elf, dachte er.
    »Etwas wirklich Grauenvolles.« Vic kaute beim Sprechen. »Das Grauenvollste, was in dem Augenblick möglich ist. Unser Hirn hat einen natürlichen Drang danach.«
    »Wonach zum Beispiel?«
    Vic nahm das Messer neben seinem Teller in die Hand, ein seltener Anblick bei ihm, da er kaum je ein Messer benutzte, auch bei der Sorte Essen nicht, das nicht schon kleingeschnitten ist. Vic spießte mit Vorliebe alles, Steak, Fisch oder Kartoffel, auf die Gabel und biß Stücke davon ab.
    »Ich kann kein Messer in der Hand halten, ohne daß ich jemand damit erstechen will«, sagte er ruhig. »Nur als Beispiel.«
    »Ähhhm, ich glaube, jetzt muß ich aber wirklich los«, spielte Joe den Witz mit und schob hektisch seinen Stuhl zurück.
    »Keine Angst, du Arsch. Ich ersteche dich nicht. Ich werde nie jemanden erstechen. Aber ich kenne den Impuls, und ich verleugne ihn nicht. So ähnlich ist es, wenn mir jemand eine Tasse Tee reicht, dann ist mein erster Impuls, ihn demjenigen ins Gesicht zu schütten.«
    Joe lächelte Vic voller Zuneigung an, was vielleicht verwunderlich erscheinen mag. Aber was er am meisten an Vic mochte, war dessen zwanghafte Ehrlichkeit, sein erbarmungsloser Geständnisdrang, die Art, wie er sein Innerstes nach außen kehrte, ohne jede Selbstzensur, wie ein überkochender Topf Persönlichkeit. Als er Vic an der Warwick-Uni kennenlernte, war der extrem zurückhaltende Joe zuerst verblüfft und dann fasziniert gewesen von Vics Röntgenselbstdarstellungen. Joe erinnerte sich an ihr erstes Gespräch. Er war gerade von einer Veranstaltung der Studentenunion gekommen, auf der Steven Huxtable einen Vortrag gehalten hatte, einer von den jungen Leuten, die sich selbst zwanzig Jahre älter machen, weil sie denken wie sonst nur Fünfzigjährige: nämlich, daß parlamentarische Politik im Zentrum des Universums liegt. »Wohin treibt die politische Mitte?« hatte der Vortrag geheißen, und als Joe lange vor dem Ende den Hörsaal verließ, hatte er hinter einer der elefantösen Betonsäulen, die das Hauptgebäude stützten, eine wütende Stimme dröhnen hören. Es war ein Ton, den Joe gut kannte an dieser Universität, eine Mischung aus Zorn und Arroganz und einer winzigen Prise Cockney.
    »Dieser Arsch Huxtable! Was für ein Riesenarsch.«
    Als Joe sich umdrehte, sah er einen für einen Mitte-der-Achtziger-Studenten ziemlich konservativ gekleideten jungen Mann — das heißt, die Haare standen in grufti Irokesenstacheln in die Luft, und der lange schwarze Mantel war von Oxfam, nur seine gepiercten Augenbrauen gingen ein bißchen weiter als bei der rebellischen Mittelschichtjugend normalerweise üblich. Zwischen Zügen an seiner Selbstgedrehten redete er auf eine enthusiastisch nickende lockige Frau in Armeejacke und mit nichtssagendem Gesicht ein.
    »Wie wild der drauf ist, auf seinem hohen Roß zu sitzen. Läßt keine Gelegenheit aus, damit zu protzen, wie moralisch überlegen er ist.«
    Joe beschloß, sich in das Gespräch einzumischen, was sehr ungewöhnlich für ihn war. Und er tat es auch weniger, weil er Freundschaft mit dem Typ schließen wollte, der ein bißchen zu, na ja, studentisch aussah, um echt zu sein, sondern weil er seinem Ärger Luft machen wollte über das Geschwätz, das er dummerweise über sich hatte ergehen lassen.
    »Aber sie ist ein solches Klischee, seine Moralität«, sagte Joe. Vic sah auf, und Joe merkte sofort, daß er abgeschätzt wurde. Er errötete leicht, und wünschte halb, er hätte nicht seine Jeansjacke an, weil er ein bißchen heavy metal darin aussah. »Findet ihr nicht?« setzte er nervös hinzu.
    Vic sah ihn noch eine Sekunde länger an; dann lächelte er und sagte mit weitausholender Armbewegung und einem dazu passenden jee-hah -Cowboyakzent: »Natürlich. Er reitet sein moralisches hohes Roß durch den Canyon platter Gedanken.«
    Die lockige Frau brach in schallendes Gelächter aus, es klang wie der Schrei einer Eule und verdarb die ganze Wirkung von Vics Spruch. Aber Joe war trotzdem beeindruckt: Er hatte noch nie jemanden mit solcher Selbstsicherheit reden hören. In den folgenden Wochen bemühte er sich um Vics Freundschaft. Als Biochemiker, also Naturwissenschaftler, war Joe das Letzte vom Letzten für die auf Künstler machenden Grüppchen, aber Vic war, in krassem Gegensatz zu fast allen anderen, die sich so kleideten

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