Was man so Liebe nennt
die man ihm jetzt abverlangte, war Joe mit dieser am wenigsten glücklich, teils weil sie ihm am deutlichsten bewußt machte, wie dringend er mit seiner eigenen Forschung weiterkommen wollte, teils aber auch, weil es da noch ein schwaches Schuldgefühl gab und er sich als Kollaborateur empfand bei der Kostensteigerung, Modernisierung und Rationalisierung und all den anderen modischen Begriffen, die nach seinem Empfinden — nicht nach seinem Verstand — eigentlich nicht auf das staatliche Gesundheitssystem angewendet werden sollten.
Er untersuchte eine Gewebeprobe, den Querschnitt eines Lymphknotens, der durch Feinnadelbiopsie einem Patienten im Royal Brompton Hospital entnommen worden war, letzten Dienstag, 24. März 1998. Wer immer der Patient war, er oder sie tat Joe leid, denn je genauer er sich das Gewebe anguckte, desto weniger Zweifel bestand an der Bösartigkeit des Tumors. Der normale Aufbau des Lymphknotens war völlig zerstört und durch einen verkrusteten Klumpen ersetzt, eine dunkle Masse wie ein böser Planet; bei stärkerer Vergrößerung konnte Joe sehen, daß die einzelnen Zellen all ihre Lymphknotenchakteristika verloren hatten, ein typisches Merkmal von Krebs — die Zellen, wie die Menschen, deren Organismus sie ausmachen, werden sich selbst fremd, vergessen sich und ihre Aufgabe im Leben. Joe wußte außerdem, daß eine solche Wucherung an einem sekundären Ort wie einem Lymphknoten auf einen Primärtumor in einem viel kritischeren Körperteil schließen ließ — der Brust oder womöglich dem Gehirn. Die Probe auf der Paraffinscheibe vor seinen Augen löste eine Vision dieses Krebses in Joe aus: Er sah ihn vor sich, wie er im Körper des Patienten lebte, sich schnell ausbreitete, seine Zellen mit rasender Geschwindigkeit teilte und unterteilte; lustvoll und hemmungslos Hunderte und Tausende Negativzellen gebar — eine Negativversion des Lebens. Als Joe weiter in das Mikroskop guckte, war er verwundert über diese Lymphknotengeschwulst — ihre außerordentliche Häßlichkeit fachte seinen Forscherinstinkt so an, daß er seinen üblichen Groll auf die ihm aufgezwungenen Biopsien vergaß: Er hätte gern mehr über diesen Fall gewußt, vor allem, ob es irgend etwas in der Lebensweise dieses Patienten gab, was ein solches Karzinom gefördert hatte.
»Bist du fertig mit den Proben?« fragte Marian, die mit einem schwarzen Clipboard auf ihn zukam.
»Ja«, sagte Joe. Als er aufsah, kniff er instinktiv die Augen zusammen, um sie wieder an das grelle Neonlicht im Labor zu gewöhnen; bei dieser Probe hatte er länger als üblich in die Grey Lady geguckt.
Marian gab ihm das Clipboard; auf dem Blatt darauf war eine Anordnung von Kästchen für jede Gewebeprobe, die er untersucht hatte, damit er sie mit dem entsprechenden Haken versah. In dem ersten Kasten stand die detaillierte medizinische Beschreibung jeder Probe, von den anschließenden beiden Kästchen war eines jedoch lapidar als »bösartig« gekennzeichnet, das andere als »gutartig«. Alle Proben, die Joe in dieser Serie untersucht hatte, waren gutartig, bis auf die letzte, und wie immer, wenn er seinen Haken an das »bösartig«-Kästchen machte, empfand er mit Beklommenheit das Unpassende dieser kleinen, fröhlichen Hieroglyphe, die »gut gemacht« zu so einem schlechten Resultat sagte. Er hätte natürlich auch ein Kreuzchen machen können, aber er fand immer, daß man sich bei einem Haken mehr konzentrierte und so die schreckliche Möglichkeit ausschloß, aus Zerstreutheit einen Fehler auf den Ergebnisblättern zu machen.
Ehe er das Clipboard zurückreichte, ließ er die Augen von seinem Haken in dem Bösartigkästchen die gepunktete Linie entlang zum Rand des Blatts wandern, wo stand, welchem Patienten die Probe entnommen worden war — als eine Serie von Nummern standen dort die Patientencodes untereinander. Die unterste, die fragliche, lautete G 3489 / Z14. G 3489 / Z14 wiederholte Joe für sich selbst, so wie man es tut, wenn man nichts zu schreiben hat und sich eine Telefonnummer merken will.
»Joe?« sagte Marian.
Er sah vom Clipboard hoch, Marian hielt ihm mit gespielter Ungeduld ihre nach oben gedrehte Handfläche hin. Ihr Gesicht hatte einen nachsichtigen und leicht zärtlichen Ausdruck angenommen; sie kannte ihn schließlich, wußte, wie zerstreut er manchmal war.
»Die Ergebnisse müssen heute noch zurückgeschickt werden...«, sagte sie. Joe schüttelte den Kopf, so als wache er plötzlich auf, und
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