Was man so Liebe nennt
Harbridge Estate lag, einer Sozialbausiedlung, und in Emmas Vorstellung gehörte es für deren Bewohner einfach zum täglichen Pflichtprogramm, Rentner zu terrorisieren und insbesondere in die Wohnungen alter Damen einzudringen, sie zu fesseln und ihnen die unter der Teehaube versteckten 3.80 Pfund zu klauen. Außerdem fürchtete sie, daß ihre Mutter im Park Lodge nicht die Pflege bekam, die sie brauchte. Emma hatte den Verdacht, daß die Unterbringung ihrer Mutter dort bloß einer der Millionen vom Magistrat beschlossenen Sparmaßnahmen zu verdanken war. Aber manchmal, wenn der romantischere Teil in ihr die Oberhand gewann, war es Emma sogar lieb, daß Sylvia nicht als gravierender Pflegefall galt — im Park Lodge versorgten sich die Bewohner selbst, hatten ihre eigenen Schlüssel und ein Telefon —, weil sie so glauben konnte, daß ihre Mutter immer noch in der Lage war, ihr eigenes Leben zu führen.
Was Sylvia sozusagen auch tat. Sylvias Alzheimer war typisch für sie. Und Sylvias typischste Merkmale waren, wie bei vielen Frauen ihrer Generation, ihr Sinn fürs Praktische und ihre Vernünftigkeit, oder eher, ihre eigene unerschütterlich hohe Meinung davon — ihr ganzes Selbstbild stand und fiel damit. Sie gehörte zu den Frauen, für die »Mach keinen Unsinn!« nicht etwas war, was man gelegentlich zu Kindern sagte, sondern ihr Manifest, ihre Lebensdevise. Und selbst jetzt, wo Sylvia wahrhaftig von allen guten Geistern verlassen war — wo der Unsinn dafür Rache an ihr nahm, daß sie ihn so lange verbannt hatte, über sie herfiel und völlig von ihr Besitz ergriff —, gab es noch eine Stelle in ihrem Kopf, an der weiterhin ihr Sinn fürs Praktische regierte. Sie konnte noch selbst für sich kochen und saubermachen, und auch wenn sie nicht wußte, ob ihr Mann noch lebte, so wußte sie doch immer genau, wo ihr Ajax stand.
Sie saß gerade mitten im Wohnzimmer (dem Wohnbereich, um genau zu sein, der nahtlos in Schlafbereich, Badebereich und Küchenbereich überging) und überlegte, ob sie noch mal Staub wischen sollte oder vielleicht lieber vorher jemand anrufen und fragen, wo genau sie hier eigentlich war, als es an der Tür läutete.
»Wer um Himmels willen kann das denn sein?« sagte sie laut vor sich hin, ehe sie aufstand und einen prüfenden Blick in den Spiegel warf, vielleicht war es der Priester, Mr. Shaughnessy, in letzter Zeit kam er dauernd vorbei und erkundigte sich nach Jerry, weil der Junge in der Stadt einen immer schlechteren Ruf bekam. Sie bauschte ihr Haar am Hinterkopf auf und ein wenig an den Seiten, und dann setzte sie sich wieder hin. Sie wußte, daß sie gerade etwas vorgehabt hatte, konnte sich aber beim besten Willen nicht erinnern, was. Wenn ich mich ein bißchen hinsetze, wird’s mir wieder einfallen, dachte sie. Sekunden später klingelte es an der Tür.
»Möchte wissen, wer mich um diese Tageszeit besucht«, sagte sie laut. Sie stand auf und ging direkt zur Tür, überlegte, ob sie erst in den Spiegel gucken sollte, weil es vielleicht Pater Shaughnessy war oder gar Jack O’Connell, der Junge aus Scull, von dem alle Leute sagten, er hätte ein Auge auf sie geworfen.
Aber als sie die Tür aufmachte, stand da ein Mann, den sie nicht kannte, ziemlich jung, vielleicht Anfang dreißig. Hose und Jackett wirkten eigentlich ganz solide, waren aber total zerknittert; er sah sehr müde aus im Gesicht, regelrecht krank sah der Junge aus. Seine Augen waren blutrot.
»Ja?« sagte sie, ziemlich hochmütig.
»Mrs. O’Connell«, begann der Mann, dann schwieg er und atmete bloß schwer. » Sylvia ...«, keuchte er schließlich in einem Ton, als hätte es sonstwas zu bedeuten.
»Ja?«
»Kann ich hereinkommen?«
Sylvia musterte ihn von oben bis unten. Dann wanderten ihre Augen zu dem Schild neben der Tür, auf dem stand: Für Not fälle. Darunter war ein roter Knopf. Sylvia wußte nicht, wie das Schild dahin gekommen war, aber falls sie es mit der Angst bekam, würde sie auf den Kopf drücken.
»Wer sind Sie?« fragte sie schließlich.
Das Gesicht des Mannes verzog sich, fast so, als verursache ihre Frage ihm Schmerzen. Mit der rechten Hand zupfte er an seinem linken Ohr.
»Ich bin Joe, Sylvia. Joe. Dein ...«, er holte tief Luft und stieß sie dann wieder aus, »...der Mann deiner Tochter.«
Sylvia runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Ich kann Ihnen nicht folgen...«, sagte sie.
Der Mann seufzte, faßte in seine Manteltasche und holte ein Foto heraus. Er zeigte es ihr.
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