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Was mich fertig macht, ist nicht das Leben, sondern die Tage dazwischen (German Edition)

Was mich fertig macht, ist nicht das Leben, sondern die Tage dazwischen (German Edition)

Titel: Was mich fertig macht, ist nicht das Leben, sondern die Tage dazwischen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Birbæk
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stehen auf Sturm, aber nein, hier kommt kein Sturm – hier kommt ein gottverdammter Hurrikan !
    Irgendein Gestörter erklimmt den Esstisch und fängt an herumzuschreien. Ob er nur näher an das Gemisch heran will, das unter der Decke brodelt, oder ob er nur verzweifelt den Notausgang sucht, niemand weiß es, niemanden interessiert es.
    In der Küche steht ein total abgerissener Typ und brüllt in ein Megafon. Er sieht aus, als hätte man ihn in Teer und Federn gerollt, bevor man ihn aus dem Hyde Park jagte.
    »Zeit ist relativ und nicht Geld! Wer Zeit hat, hat Zeit! Zeitverschwendung kostet nur Zeit! Wer Zeit hat – lebt!«
    »Und was ist man, wenn man Zeitdruck hat?«, kommt ein Zwischenruf.
    »Allein erziehend«, ruft eine Frau dazwischen.
    Mister Hyde sieht seine Felle davonschwimmen.
    »Die Zeit ist neutral, sie kann nicht drücken!«, brüllt er. »Es gibt nur Restzeit ! Carpe diem – nutzet den Tag, nutzet die Restzeit! Treibet keinen Schindluder mit dem Tage, den der Herr euch geschenket hat!«
    »Buuuuhhhh!«, kommt es von den billigen Plätzen.
    »Zwei zu zwei in der neunzigsten Minute! Ihr sollt nicht begehren eures Nachbarn Weib!«, brüllt er weiter und wirft beim Herumfuchteln ein Tablett Sektgläser zu Boden.
    » buuuuuuhh !«, knallt es ihm entgegen.
    »Wir sind verdammt! Wir sind alle verdammt! Heil Hitler!«, schreit er verzweifelt.
    Eine Kaskade aus Käsehäppchen und Obst wirft ihn um. Jemand nimmt ihm das Megafon ab, und ich sehe gerade noch, wie es durch ein Fenster hinausfliegt, bevor links neben mir eine Bombe zündet, die mein Trommelfell zerfetzt und meinen Kopf in tausend Stücke reißt. Jemand hat Vivis Monsteranlage auf zehn von zehn Möglichen gedreht, und die revanchiert sich mit Geräuschen, die kein Splatterfan je zu hören bekam, Ian Durys Liveversion von Hit Me prügelt auf mich ein, und die Tänzer springen durch den Raum, als hätte man sie unter Strom gesetzt. Ich stopfe mir zwei Zigarettenfilter in die Ohren und wanke zum Ausschank, um die Schmerzen zu lindern.
    Eine Stunde später kriege ich kaum noch Luft. Der Hurrikan kommt immer näher und treibt eine Nebelwand vor sich her, die einem die Sicht raubt und jedes Sauerstoffatom im Raum aufsaugt. Meine Augen brennen wie Schürfwunden, und meine Zunge ist in Terpentin eingelegt. So jung und schon so fertig. Was ich brauche, ist frische Luft, also schnappe ich mir eine Jacke, und für den Fall, dass mich unterwegs eine Vitaminschwäche heimsuchen sollte, ein volles Glas Ananas.
    Der Sommerabend ist frisch, und die Straßen sind wie gefegt. Der Asphalt hat aufgehört zu flimmern, und das Viertel atmet tief durch und saugt die abgekühlte Luft an, um für den morgigen Angriff der Sonnenenergie gewappnet zu sein. Ich spaziere federleicht schwankend drauflos. Wolken aus Zuckerwatte und das Blau so blau. Welch wunderbare Stille – ahhhhhhhhh !!!! Ein riesiger Schatten kommt aus dem Nichts geschossen und hämmert so dicht an mir vorbei, dass der Luftzug mich taumeln lässt. Verzerrte Gesichter kleben an den Scheiben, schneiden Grimassen und geben mir den Finger. Sie scheinen mich anzuschreien, aber ich höre sie nichts. Scheiße, ich bin taub! Kurz bevor ich durchdrehe, fällt mir ein, dass ich noch die Zigarettenfilter in den Ohren habe.
    Als ich sie endlich raus habe, bin ich versucht, sie sofort wieder reinzustecken, denn die Kommentare der Fahrgäste sind von der persönlicheren Art. Es scheint eine amtliche Vollbremsung gewesen zu sein, denn sogar der Fahrer macht Anstalten, rauszukommen. Er ist zwar einen halben Meter kleiner als ich, aber ich will trotzdem keinen Ärger. He, der Mann ist Bahnfahrer – der hat nichts mehr zu verlieren.
    Die Kabinentür öffnet sich, und er setzt einen Fuß auf die erste Stufe. Um den Ärger im Keim zu ersticken, stecke ich eine Hand in die Jackentasche und lächele ihn leer an. Er verharrt unschlüssig auf der zweiten Stufe und scheint das Risiko abzuwägen. Ich nutze die Gunst der Stunde, um in einen Trab zu fallen, der mich flugs vom Tatort entfernt. In der Jacke klappert etwas, und als ich der Sache auf den Grund gehe, fällt mir ein Döschen mit Rauch in die Hände, und wer bin ich denn, dass ich die Zeichen missachte?
    An der nächsten Parkbank lege ich eine Pause ein, um mir einen Turm zu bauen. Es besteht momentan zwar wenig Gefahr, dass ich plötzlich wieder nüchtern werde, aber wie heißt es so schön – der kluge Mann baut vor.
    Als ich den Stick zur Hälfte durchhabe, überfällt

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