Was mit Rose geschah
erklärt mir die Herkunft der Bezeichnung Black Patch: Am Rande des Dorfes waren zu Zeiten der Pest angeblich die Armen begraben worden. Allerdings gebe es dafür seines Wissens keine Beweise, sagt er übertrieben gewissenhaft. Als ich mich nach einem vermissten Mädchen erkundige, hat er nichts mehr zu sagen. Alles, was weniger als hundert Jahre zurückliegt, scheint ihn nicht zu interessieren.
Friedhof oder nicht, heute ist der Black Patch jedenfalls eine Schutthalde in der Nähe eines Supermarktes. Das ganze Gelände wurde in eine gewaltige schlammige Mondlandschaft verwandelt– hier könnte man glatt die doppelte Einwohnerzahl des Dorfes unterbringen. Neben der Straße verkündet ein Schild den unmittelbaren Baubeginn von »Alder View – exklusive Einfamilienhäuser am Fluss«. Das dazugehörige Bild hat keinerlei Ähnlichkeit mit der Kraterlandschaft vor mir. Einen Fluss sehe ich auch nicht – bis mir klar wird, dass sich hinter den Weiden und Erlen jenseits des Geländes ein Wasserlauf verbirgt. Einige Bagger stehen da, die Schaufeln in die Luft gereckt, sie heben sich giftig gelb von der grauen Erde ab. Ein einzelner Mann mit Helm raucht neben einem Baucontainer. Ich wate durch den Schlamm zu ihm hinüber.
»Das ist Privatgelände.«
»Verzeihung. Ich wollte nur wissen, ob man das hier den Black Patch nennt.«
Er grinst. »So wurde es früher genannt. Gefällt den Yuppies aber nicht so gut. Jetzt heißt es ›Alder View‹.«
Rob, der Bauarbeiter, erklärt mir, dass die Arbeiten langsam vonstattengehen, weil der Boden so feucht ist. Seiner Ansicht nach sei es verrückt, Häuser in der Überschwemmungsebene zu bauen. Es gebe viel Ackerbau in der Gegend: Beerenobst und Gemüse. Früher seien die Zigeuner einfach weitergezogen, wenn die Ebene überflutet war. Ich erkundige mich, ob die Bauarbeiten irgendwelche Hinweise auf Pestopfer zutage gefördert hätten, doch er zuckt mit den Schultern, seines Wissens nicht. Tonscherben und der eine oder andere Knochensplitter, vermutlich von einem Tier; ansonsten hauptsächlich Müll. Ich erkläre, dass ich hergekommen bin, weil vor sechs Jahren eine junge Frau hier verschwunden ist, dass ich aber nicht nach einer Leiche suche, wie ich betone, sondern nach einem lebenden Menschen. Nur für den Fall, dass er etwas hört. Mein neuer Freund ist inzwischen so aufgeregt, dass er verspricht, herumzufragen, und so lasse ich ihm meine Karte da.
Es gibt nur ein Problem mit dieser Spur. Laut Rob wurde Black Patch vor fast zehn Jahren verkauft – lange bevor Roseverschwand. Wurde das Gelände während des komplizierten, langwierigen Planungsprozesses als illegaler Stellplatz genutzt?
Rob hält das für unwahrscheinlich.
Ich hoffe, er irrt sich.
18
JJ
Die letzte Nacht war die schlimmste meines Lebens. Wir wurden wach, als jemand um zwei Uhr gegen die Tür des Wohnwagens hämmerte. Es war Ivo, und er klang verängstigt. Christo konnte nicht atmen. Mama und ich zogen uns etwas an und rannten hinüber, und obwohl ich hinter ihnen an der Tür wartete, merkte ich, dass es schlimm war. Christos Atem ging nicht kurz und flach, wie sonst manchmal, sondern kratzig und rasselnd. Es war schrecklich.
Mama sagte: »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.«
Ivo wurde weiß wie ein Bettlaken. Er hasst Krankenhäuser. Ich meine, niemand findet sie schön, aber er hasst sie wirklich . Als hätte er eine Phobie oder so. Ich nehme an, er hat als kleiner Junge viele schlimme Erfahrungen gemacht – und man konnte ihm dort nicht helfen. Trotzdem nickte er, denn es gab keine andere Möglichkeit. Wir hatten alle Angst. Großmutter wachte von dem ganzen Lärm auf – niemand versuchte, leise zu sein – und war auch der Meinung, dass er ins Krankenhaus musste. Alle waren sehr zupackend und hilfsbereit, wie das in Notfällen so ist, wenn man Tücher und Decken und Erkältungssalbe anbietet. Man muss sich mit Kleinigkeiten ablenken, damit man nicht an das Schlimmste denkt – als könnte Erkältungssalbe dagegen helfen.
Am Ende fuhren wir alle ins Krankenhaus – das heißt Mama, Ivo, Christo und ich. Mama wollte mich wieder ins Bett schicken, aber ich hätte sowieso nicht schlafen können, und außerdem war es Samstagnacht. Ich dachte, Christo würde sich vielleicht freuen, mich dabeizuhaben, auch wenn er es nicht sagen konnte.Wir fuhren ins nächste Krankenhaus – es gibt eins in der Stadt, also brauchten wir nur eine Viertelstunde – und stürmten in die Notaufnahme. Ivo trug Christo zur
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