Was mit Rose geschah
streckt die Hände nach Christo aus.
Ivo weicht zurück. »Das mache ich. Wir legen uns zusammen hin. In unserem Wohnwagen. Ich kann mich um ihn kümmern, okay?«
»Wir wollen dir nur helfen … «
»Ich brauche keine Hilfe.« Er dreht sich um und geht zu seinem Wohnwagen.
»Was ist nur in ihn gefahren?«, fragt Großmutter.
»Mama, er ist müde. Er hat nicht geschlafen.«
»Ich weiß! Deswegen wollen wir ihm ja helfen. Da braucht er nicht so unhöflich zu sein!«
Den letzten Satz schreit sie, damit Ivo sie hören kann; er schlägt nur die Tür zu.
»Der Junge hat einfach keine Manieren. Jedenfalls nicht mehr seit – dabei war er so ein nettes Kind.«
»Er hat eine Menge am Hals, Mama.«
»Ich weiß nicht, weshalb du dich immer auf seine Seite stellst.«
Sie funkeln einander an wie zwei Katzen.
Da Ivo unsere Hilfe nicht will, geben wir auf. Ich denke unwillkürlich, dass Christo besser noch eine Weile im Krankenhausgeblieben wäre. Wer weiß – vielleicht finden sie doch ein Heilmittel für ihn. Wissenschaftler arbeiten die ganze Zeit an so etwas. Die haben vielleicht etwas Neues herausgefunden, seit er ein Baby war.
Als Mama und ich in unseren Wohnwagen gehen, um einen Tee zu trinken, sieht sie besorgt aus. Ich frage, ob sie nicht auch glaubt, dass Christo im Krankenhaus besser aufgehoben ist.
Sie schüttelt seufzend den Kopf. »Sie hätten ihn sicher nicht gehen lassen, wenn er im Krankenhaus bleiben müsste, Schatz.«
»Ich weiß, aber …«
Eigentlich weiß ich nichts, also sage ich auch nichts. Dann kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Ich frage mich plötzlich, ob Ivo Christo vielleicht gegen den Willen der Ärzte mitgenommen hat. Vielleicht dürfen sie einen nicht aufhalten, wenn man der Vater ist. Vielleicht haben sie es gar nicht gemerkt – es gibt zu wenige Ärzte, und sie haben so viel zu tun. So was über Ivo zu denken ist ziemlich schlimm, also sage ich nichts. Doch der Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf.
Es ist komisch; als ich jünger war, habe ich zu Ivo aufgeblickt. Trotz seines Jähzorns und seiner Launen schien er so zu sein, wie ich als Erwachsener auch sein möchte. Vielleicht braucht man jemanden in seiner Familie oder in seiner Nähe, der einem das geben kann: »Wenn ich groß bin, möchte ich wie der und der sein.« Ich habe keinen Vater, zu wem also sollte ich aufblicken? Wohl kaum zu Großvater mit seinen hervorquellenden Augen, der roten Haut, die sogar im Winter sonnenverbrannt aussieht, und dem dicken Bauch – kaum zu glauben, dass ich überhaupt mit ihm verwandt bin. Er ist in Ordnung, aber er tut meistens nur das, was Großmutter von ihm verlangt, und wenn er was getrunken hat, erzählt er gerne Geschichten über seine Zeit als Boxer und wie er jemandem namens Long Pete oder Black Billy oder wem auch immer die Zähne ausgeschlagen hat. Ich weiß nicht mal, ob das alles stimmt. Großmutter stöhntimmer, wie nutzlos er ist. Und ich möchte auch nicht wie Großonkel sein, der Mann, der das Unglück nur so anzieht, obwohl ich gerne mit ihm rede, wenn er guter Stimmung ist. Aber man kann nicht wie jemand sein wollen, der im Rollstuhl sitzt und den man im Urlaub zum Klo schieben muss, oder? Blieb also nur Onkel Ivo.
Als er – und Großonkel und Christo – zu uns kamen, war ich sieben oder acht. Bis dahin kannte ich nur Mama und später dann Großmutter und Großvater. Ich war noch kaum in die Schule gegangen. Es war eine heile Welt, in der ich aufwuchs, oder zumindest, da sie von Vertreibung oder Schikane durch die Polizei nicht verschont blieb, eine kleine Welt. Eine unterbevölkerte Welt, wie mein Erdkundelehrer sagen würde. Mit Großonkel und Ivo wurde es jedenfalls lebhafter. Und Ivo war cool. Er ist nicht groß, aber schlank und sieht ziemlich gut aus. Er hat dunkles Haar und dunkle Augen und richtig glatte Haut, und wenn er Leute ansieht, wirkt er sehr selbstbewusst, als wüsste er es besser als sie, wer immer sie auch sind. Wenn wir die Straße entlanggehen, drehen sich die Mädchen nach ihm um. Ansonsten haben die Leute ein bisschen Angst vor ihm. Aber wenn man ihn mit Christo sieht, weiß man, dass er ein wirklich gutes Herz hat. Und wenn er einen anlächelt, ist es wie ein besonderes Geschenk. Man fühlt sich richtig gut. Manchmal halten mich Leute, die uns nicht kennen, für seinen Sohn, weil wir uns ähnlich sehen – das gleiche Haar, die gleichen Augen. Ich sage das nicht aus Eitelkeit – es stimmt einfach. Früher habe ich mich gefreut, wenn Leute das
Weitere Kostenlose Bücher