Was mit Rose geschah
Er schaut auf seinen Sohn hinunter, der ihm zulächelt – ein unheimlich süßes Lächeln. Ivo lächelt auch – zum ersten Mal richtig – und küsst ihn auf den Kopf. »Nur wir beide, Kleiner, was? Sie wusste nicht, was sie verpasst.«
Sein Lächeln ist traurig, und er fängt flüchtig meinen Blick auf.
»Das war im … November?«
»Ich glaube schon. Kann mich nicht genau erinnern.«
»Christo war also erst ein paar Wochen alt?«
»Ja. Oder … vielleicht war es auch ein bisschen später.«
Ich mache mir Notizen. Tene hat gesagt, dass Rose verschwand, als Christo ein paar Monate alt war – das wäre nach Weihnachten gewesen. Aber die Leute sind vergesslich.
»Sie hat auch Schwestern. Haben Sie mit ihnen gesprochen? Sie müssten mehr wissen«, sagt er.
»Ja, aber sie haben nichts von ihr gehört.«
Ivo zieht die Augenbrauen hoch und zuckt wieder mit den Schultern. »Ich wusste, dass sie nicht glücklich war. Nachdem er da war. Manchmal sagte sie richtig komische Sachen. Manchmal … Gehen wir kurz nach draußen.«
Ivo setzt sich eine Altmännermütze auf und zieht die Krempe über die Augen. Dann trägt er seinen Sohn zu dem anderen kleinen Wohnwagen, in dem uns ein Junge im Teenageralter die Tür öffnet. Eindeutig noch ein Janko. Er nimmt Christo auf den Arm und trägt ihn hinein.
»Wer ist das?«, frage ich beiläufig, als wir weiterschlendern und Ivo sich eine Zigarette anzündet.
»Mein Neffe JJ.«
»Oh. Sie haben einen Bruder … oder eine Schwester?«
Ich überlege, was Lulu mir erzählt hat. Sind nicht alle Jungen außer Ivo gestorben? Dann wohl eine Schwester.
»Na ja, er ist der Junge meiner Cousine Sandra. Also ist er, was, mein Cousin. Um zwei Ecken oder so. Keine Ahnung …«
Ohne Christo wirkt er nervös. Er zieht heftig an seiner Zigarette. Bei Tageslicht wirkt seine Haut erstaunlich glatt, fast wächsern. Ich muss wieder an die Krankheit denken. Ist das ein Symptom?
»Haben Sie Schwestern?«
Pause.
»Ich hatte eine. Sie ist gestorben.«
»Oh, tut mir leid. War sie auch krank?«
»Nein. Autounfall.«
»War das der, bei dem Ihr Vater verletzt wurde?«
»Nein. Das war lange vorher. Ich war sechzehn, sie siebzehn.« Ivo funkelt mich durch den Zigarettenrauch an. Ich spüre Streitlust hinter seiner Zurückhaltung. Allmählich verliert er die Geduld.
»Was wollten Sie drinnen über Rose erzählen – die Dinge, die sie gesagt hat?«, frage ich.
Er schaut in die Ferne, die Zigarette leicht zwischen die Lippen geklemmt. Kräuselnd steigt ihm der Rauch in die Augen. Er blinzelt nicht, kneift nur die Lider zusammen. Lange, gebogene Wimpern. Dann reißt er die Zigarette ruckartig aus dem Mund. Schnippt so heftig dagegen, dass das angezündete Ende in ein Büschel Löwenzahn fliegt. Wohl doch nicht so cool.
»Sie hat getan, als würde Christo nicht existieren. Als hätte sie ihn nie geboren. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hatte Angst, dass … sie ihm wehtut oder so. Ich wollte ihn nicht mit ihr allein lassen. Als sie ging … war ich … irgendwie erleichtert.«
Ivo scheint sich auf einen Traktor zu konzentrieren, der über einen Feldweg zum Horizont kriecht. Dahinter fährt ein weißer Kombi, der es offenbar eilig hat und überholen will.
»Würden Sie sagen, sie war depressiv?«
»Keine Ahnung. Glücklich war sie nicht.«
»Manche Frauen bekommen Depressionen nach der Geburt. Die Symptome können ziemlich heftig sein. Und wenn es dem Baby nicht gut ging … wäre das ein weiterer Schlag gewesen.«
»Niemand hat so etwas gesagt. Aber sie war nicht glücklich. Sie schien nicht richtig im Kopf.«
»War sie beim Arzt?«
»Nein.« Es klingt, als wollte er fragen: Wieso sollte sie?
»Haben Sie … mit jemandem über sie geredet?«
Er schüttelt den Kopf.
»Nicht mal mit Ihrem Vater?«
»Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen macht. Außerdem war sie meine Frau. Es war meine Familie. Meine Angelegenheit.« Er zündet sich die abgebrochene Zigarette wieder an und zieht daran, was seine Wangen noch hohler macht.
»Haben Sie sie geliebt?«
Er erstarrt. Jetzt bewegt sich nur noch der Zigarettenrauch.
»Mr Janko …?«
Plötzlich kommt mir ein Bild von Lulu in den Sinn, wie sie über dem leblosen Körper ihres – was? – Liebhabers? Patienten? hockt.
Ivo hat nicht geantwortet. Er scheint mit der Frage zu kämpfen.
»Wir waren verheiratet, wissen Sie …«
»War es anfangs eine glückliche Ehe?«
»Ich habe sie nicht umgebracht. Das denken Sie doch,
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