Was mit Rose geschah
Plattitüde beinahe in der Kehle stecken. So viele Verluste; ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie sein Leben ausgesehen hat. Oder das der anderen.
An der Wand hängt ein Schwarz-Weiß-Foto in einem silbernen Rahmen. Es zeigt eine junge dunkelhaarige Frau in der Mode der frühen Sechzigerjahre. Ein ernstes mitteleuropäisches Gesicht mit breiten Wangenknochen. Sie sitzt vor einem Satinvorhang im Fotostudio, und zwei Kinder drängen sich an sie. Es ist Tenes Frau Marta mit Ivo und Christina, die Überlebenden – jedenfalls damals. Ivo ist kleiner als seine Schwester – natürlich war er jünger – und schrecklich dünn, aber er hat ein nettes, glückliches Lächeln. Er muss etwa sechs sein, so wie Christo jetzt. Christina hat den Arm um ihn gelegt; die kämpferische ältere Schwester, die mit erhobenem Kinn in die Kamera blickt. Sie sind einander sehr ähnlich.
Vermutlich wussten sie damals schon, dass Ivo krank war. Sie wussten nur nicht, wie viel Zeit ihm bleiben würde.
Es dämmert, als ich nach Hause komme. Das Licht am Anrufbeantworter blinkt, und obwohl ich eigentlich zu müde bin, drücke ich mechanisch den Knopf. Ich erkenne die Stimme des Mannes nicht.
»Ray? Mr Lovell? Tut mir leid, wenn ich Sie zu Hause anrufe, aber es ist ja Wochenende … Ich wollte Ihnen sagen … Verzeihung, hier spricht Rob. Rob Anderson aus Alder View. Die Bauarbeiten wurden unterbrochen. Man hat etwas auf der Baustelle gefunden. Menschliche Überreste.«
II
Der Trick des Vergessens
32
St.-Luke’s-Krankenhaus
Aus irgendeinem Grund bleibt meine rechte Hand taub und leblos, selbst nachdem der Rest meines Körpers wieder zum Leben erwacht ist. Eigentlich bin ich Rechtshänder. Ich kann die rechte Hand mit der linken hochheben, drücken, die Finger biegen, in die Haut kneifen, spüre aber nichts. Es ist, als machte ich mich an einem Handschuh voller Sand zu schaffen.
Eine der Krankenschwestern kommt jeden Tag und piekt mich mit einer Nadel. Es ist faszinierend, wie sie die Metallspitze unter meine Haut schiebt, ohne dass der erwartete Schmerz kommt.
»Und wenn es so bleibt? Können Sie nichts dagegen machen?«
Die Krankenschwester ist jung und fröhlich. Sie hat rosige Wangen, die sie vergeblich mit einem grünlichen Puder zu überdecken sucht, und trägt ein kleines goldenes Kreuz um den Hals, das ihr aus dem Ausschnitt rutscht und wie eine Segnung über meinem Bett baumelt. Auch ohne das Kreuz kann man sehen, wie sehr sie von der Liebe Jesu durchdrungen ist.
»Sie werden Physiotherapie bekommen. Aber es gibt keine körperlichen Schäden, daher müssten sich die Nerven eigentlich von selbst erholen. Sie können sich also durchaus Hoffnung machen.«
Sie lächelt mir zu. Sie ist jung – vielleicht vierundzwanzig – und selbstsicher, freundlich und nett. Ich wette, sie wollte schon mit fünf Jahren Krankenschwester werden.
Ich kann mir durchaus Hoffnung machen. Das klingt so nett. Ich wünschte, es wäre wahr.
Ich erhole mich; das merke ich selbst. In den vergangenenTagen – ich weiß nicht, wie viele es sind – habe ich meine Sprache und Beweglichkeit zurückerlangt. Aber ich kann mich noch immer nicht daran erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Und ich kann meine Fehler nicht wiedergutmachen. Nur weil ich ein Opfer bin, spricht mich das nicht von aller Schuld frei. Nach dem Debakel mit Georgia sagten die Leute, es sei nicht mein Fehler, ich hätte nicht voraussehen können, was dann geschah. Aber sie irrten sich. Ich war ihrem Mörder begegnet. Ich hatte ihm in die Augen gesehen. Ich hätte es wissen müssen.
Irgendwann muss ich eingedöst sein. Als ich die Augen öffne, sehe ich jemanden auf dem abwischbaren Plastikstuhl neben meinem Bett sitzen. (Sie vertrauen nicht einmal auf die Kontinenz der Besucher.) Zuerst merke ich es nur, weil das Sonnenlicht, das durch die Zweige des Kirschbaums fällt, ein anderes Muster bildet. Ein Muster mit roten Flecken. Lulu Janko. Mit ihren roten Schuhen und dem roten Lippenstift und den roten abgebissenen Nägeln. Heute trägt sie einen schmalen karminroten Schal um den Hals, er sieht aus wie ein blutiger Schnitt. Es dauert eine Sekunde, bis ich begreife, weshalb mich dieser Besuch überraschen sollte. Mein träges Hirn, das von den einschlaffördernden Beruhigungsmitteln benebelt ist, wird aktiv, und ich fühle mich angemessen beschämt. Aber sie ist hier. Ich bin mir nicht sicher, ob ich froh oder verwirrt sein soll. Unterm Strich macht es mich, glaube ich, eher
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