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Was sich kusst das liebt sich

Was sich kusst das liebt sich

Titel: Was sich kusst das liebt sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manning Sarra
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Bedauerlicherweise taten sich diese Löcher nie auf, wenn man mal dringend eines brauchte. Dann also Plan B. Eine Stunde auf dem Laufband im Fitnesscenter wirkte Wunder. Als Neve in der Arbeit ankam, war sie ungleich ruhiger, und das Work-out hatte auch ihrem Kater den Garaus gemacht.
    Sie arbeitete jetzt seit dreieinhalb Jahren im London Literary Archive, das sich in einer eher schmuddeligen Gegend zwischen Kings Cross und Holborn befand. Ursprünglich hatte sie nur halbtags am LLA gejobbt, um ihr mickriges Stipendium von der British Academy etwas aufzubessern. Ohne diese zusätzliche Einnahmequelle hätte sie ihr Studium wohl kaum beenden können. Nachdem sie ihren Master gemacht und festgestellt hatte, dass sie weder Lust noch die nötigen Mittel hatte, die nächsten vier oder fünf Jahre in ein Doktorstudium zu investieren, hatte sie die Ganztagsstelle als leitende Archivarin dankbar angenommen. Ihre Mutter erzählte hartnäckig überall herum, Neve sei Bibliothekarin, was jedoch nicht stimmte. Man musste sich voranmelden und Referenzen von zwei anerkannten Bildungseinrichtungen vorlegen, um die verstaubten Akten des LLA einzusehen, von den noch verstaubteren Büchern ganz zu schweigen.
    Es gab allerdings nicht sonderlich viele Akademiker, die darauf brannten, das Archiv zu durchforsten, denn der Großteil der hier versammelten Werke und Unterlagen war bereits von jedem anderen Archiv in der westlichen Hemisphäre abgelehnt worden. Ihr Bestand stammte überwiegend aus Nachlassschenkungen– eine bunte Mischung vergilbter, stockfleckiger Bücher mit zerfledderten Einbänden, verfasst von irgendwelchen dubiosen Autoren, die noch auf ihre Entdeckung warteten. Etwa alle sechs Monate ging unter der Belegschaft das Gerücht um, dass das Archiv aufgrund der prekären finanziellen Situation demnächst schließen musste, aber bislang hatte man noch jedes Mal die nötigen Mittel zum Weitermachen aufgetrieben– aus den unglaublichsten Quellen: Mal war es eine Spende von einem kürzlich verstorbenen Philanthropen, dann wieder beschloss ein Independent-Studio in Hollywood, ein Werk zu verfilmen, das aus der Feder einer » ihrer« toten Autoren stammte, und hin und wieder erhielten sie, Wunder über Wunder, eine Finanzspritze von der Staatlichen Lotterie.
    Auch architektonisch hatte das LLA wenig zu bieten. Es war im Erdgeschoss und Souterrain eines kleinen, gedrungenen Gebäudes untergebracht, in dem sich neben einem Buchhalter auch ein skrupelloser Anwalt eingemietet hatte, der auf Rechtshilfefälle spezialisiert war und naive Unfallopfer zu Schadensersatzklagen drängte. Im Erdgeschoss befanden sich der Empfang, der Lesesaal sowie das Büro des Archivleiters Mr Freemont. Neve arbeitete im Souterrain, wo das einzige natürliche Licht durch ein winziges Fenster in der winzigen Küche an der Rückseite des Hauses hereinfiel. Alles, angefangen von den Wänden über die Böden bis hin zur Decke, ja sogar das Schild mit den Gesundheits- und Sicherheitshinweisen an der Korkpinnwand, war nikotingelb.
    Neve bahnte sich einen Weg durch das riesige Großraumbüro im Erdgeschoss, das der reinste Hindernisparcours aus riskant übereinandergestapelten Pappkartons und maroden metallenen Aktenschränken war, welche nicht nur sämtliche Wände säumten, sondern auch sonst an allen erdenklichen Ecken standen. Sie blieb stehen, um Chloe zu begrüßen, eine hübsche Blondine, die theoretisch für die Neuanschaffungen zuständig war, es aber vorzog, Bewerbungen an Literaturagenturen zu verschicken. Danach wünschte Neve ihrer Vorgesetzten Rose, die seit grauer Vorzeit am LLA arbeitete, einen guten Morgen. Es war ratsam, sich mit Rose gutzustellen, denn sie war für die Gehälter verantwortlich und konnte Mr Freemont mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem einzigen strengen Wort in die Schranken weisen. Dann war da noch Philip, der so etwas wie Neves » Büroehemann« war, gelegentlich im Archiv aushalf und ansonsten an seiner Doktorarbeit schrieb. Die übrigen Mitarbeiter waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen sozial inkompetenter Akademiker, die nicht einmal an den unbedeutendsten Universitäten eine Anstellung gefunden hatten. » Ihr seid doch bloß bessere Fachhochschulabgänger«, schnaubte Mr Freemont ungehalten, wenn er wieder einmal einem von ihnen wegen fehlerhafter Querverweise die Hölle heißmachte.
    Nachdem sie festgestellt hatte, dass Mr Freemont an diesem Morgen nicht im Büro war, begab sich Neve in das kleine Kabinett,

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