Was sich kusst das liebt sich
vielleicht nicht so fett.«
Neve hatte jeden Sonntagabend geweint und sich übergeben bei dem Gedanken daran, dass sie am nächsten Morgen wieder in die Schule musste, wo ihr Charlotte alle möglichen Grausamkeiten zufügen würde, die sie sich am Wochenende ausgedacht hatte. Doch jetzt würde sie nicht weinen. Sie hatte wegen Charlotte schon viel zu viele Tränen vergossen.
» Sie hat sich diesen fiesen Spitznamen für mich ausgedacht«, erzählte sie. » Das war vermutlich der erste und letzte geistreiche Moment ihres Lebens. Sie hat mich so lange ›Würgi‹ genannt, bis es sich an der Schule durchgesetzt hatte. Einmal ist es sogar unserer Turnlehrerin rausgerutscht, obwohl sie hinterher so getan hat, als wäre nichts gewesen.«
» Wieso hat sie dich so genannt?«, fragte Max vorsichtig. » Wegen… deines Aussehens, oder?«
» Ich war fett«, sagte Neve unverblümt. » Fetter jedenfalls. Und der Spitzname war so schön vielseitig. Er konnte bedeuten, dass die Leute bei meinem Anblick anfingen zu würgen, oder dass ich lieber mein Essen hätte hochwürgen sollen, statt es zu verdauen, oder dass ich so fett war, dass mir beim Laufen alles hochkam…«
» Aber du hast dich verändert«, sagte Max. » Warum lässt du dich immer noch von ihr mobben?«
» Keine Ahnung.« Neve drückte den Filter auf den Kannenboden. » Sie schafft es einfach, mir das Gefühl zu geben, dass ich wieder fünfzehn bin. Ganz egal, wie viel ich abnehme, die dicke Neve lauert knapp unter der Oberfläche, und Charlotte bringt sie immer wieder zum Vorschein.«
Sie stellte ihm eine Tasse hin, und er setzte Keith auf dem Boden ab und nahm Neves Hand, obwohl sie eigentlich gerade nicht berührt werden wollte.
» Ich werde nie wieder mit ihr flirten, versprochen«, sagte er und massierte mit dem Daumen ihre Handfläche. » Es muss ein Schock für dich gewesen sein, als du erfahren hast, dass dein Bruder mit ihr zusammen ist.«
» Ich war damals an der Uni, und Mom hat es mir nicht erzählt, weil sie annahm, es würde nicht lange halten. Douglas hat die Freundinnen gewechselt wie andere Leute ihre Unterwäsche. Tja, so kann man sich täuschen.« Neve war nach der Abschlussprüfung wieder zu Hause eingezogen, und eines Nachts war sie auf dem Weg zur Küche im Flur mit Charlotte zusammengestoßen, die gerade aus dem Zimmer ihres Bruders kam. Sie hatten beide kein Wort gesagt, aber Neve schlug noch heute das Herz bis zum Hals, wenn sie daran dachte.
Dann hatte es Wichtigeres gegeben, und als Douglas und Charlotte nach Las Vegas geflogen waren und geheiratet hatten, war Neve nichts anderes übrig geblieben, als sich damit abzufinden, dass der Albtraum ihrer Jugendjahre künftig eine Etage unter ihr wohnen und ihren Nachnamen tragen würde.
Max sagte nichts, sondern streichelte sie weiter und ließ sie auch nicht los, als Neve versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.
» Mir war schon klar, dass wir nie dicke Freundinnen werden«, sagte Neve, » aber ich hätte ihre Entschuldigung angenommen, wenn sie sich denn mal entschuldigt hätte. Doch sie hat überhaupt keine Anstalten gemacht, es zu tun. Ihre Methoden mögen inzwischen etwas subtiler sein, aber sie mobbt mich nach wie vor, und ich lasse es zu, weil ich schwach und hilflos bin…«
» Unsinn«, unterbrach sie Max. » Du wärst nicht meine Pfannkuchenfreundin, wenn du eine Versagerin wärst.«
Neve musste wider Willen lächeln. » Hallo? Wie du dich vielleicht erinnerst, war ich diejenige, die dir das Konzept der Pfannkuchenbeziehung nähergebracht hat, also untersteh dich, meine Idee zu bogarten und so zu tun, als hättest du das Urheberrecht darauf.«
» Wieso kennst du den Ausdruck bogarten?«, fragte Max. » Hast du mal einen Kiffer-Knigge gelesen? Erzähl mir nicht, dass du kiffst, sonst bricht mein ganzes Wertesystem zusammen.«
» Wer weiß, vielleicht tu ich es ja tatsächlich.« Sie tat es nicht. Es hatte sie schon an der Uni nie interessiert, und jetzt erst recht nicht, denn sie hatte live miterlebt, wie Celia und Yuri wegen einer haschischbedingten Fressattacke ihren Kühlschrank geplündert hatten, und darauf konnten sowohl Neve als auch ihre Hüften verzichten.
» Nicht wirklich, oder?« Er musterte sie fragend. Konsterniert.
» Nein. Ich lese bloß viel.« Sie hatte die unerquickliche Begegnung mit Charlotte und den dadurch verursachten emotionalen Aufruhr zwar nicht vergessen, aber Max hatte es sehr geschickt verstanden, sie auf andere Gedanken zu bringen. Wie machte
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