Was sie nicht weiss
weiß – ihre Taten verabscheut. Unfassbar, nach allem, was sie beide durchgestanden haben.
Schon vor Jahren hätte sie tun sollen, was sie jetzt getan hat. Aber damals hoffte sie noch, die schlimmen Erinnerungen würden mit der Zeit verblassen. Letztlich war es auch so, allerdings nur in dem Sinn, dass sie irgendwann nicht mehr täglich darunter litt. Doch vergessen hat sie nichts.
Sie hatte die Jungen angefleht aufzuhören, schließlich war es doch nur ein Spiel gewesen. Hätte sie geahnt, worauf dieses verfluchte Kartenspiel hinauslief, hätte sie niemals mitgemacht.
Erst hatte David sie an sich gepresst und geküsst. Sie setzte sich nicht zur Wehr, doch als er zudringlicher wurde, versuchte sie, ihn wegzuschieben, was nicht gelang, weil er viel größer und kräftiger war als sie. Ihr Widerstand schien ihn geradezu anzustacheln. Seine Hände waren überall, zogen ihr den Slip aus. Und auf einmal waren da noch die zwei anderen. Sie standen hinter ihr, betasteten sie und fassten ihr zwischen die Beine. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, aber es war aussichtslos. Irgendwann lag sie am Boden, und die drei fielen über sie her. Wie Hyänen über ein Beutetier. Dass sie weinte und schrie, ließ sie völlig kalt.
Und dann war da noch dieses Mädchen. Sie stand dabei und feuerte die Jungen an. Dass ihr eigener Freund unter den Vergewaltigern war, schien sie nicht zu stören. Hinterher, als die drei von ihr abließen, hörte sie sie sagen: »Geschieht ihr recht, der arroganten Zicke.« Oft hatte sie sich gefragt, ob das Mädchen ihre Zurückhaltung als Arroganz ausgelegt und deshalb Schadenfreude empfunden hatte. Sie hatte die andere nie darauf angesprochen, sondern war ihr aus dem Weg gegangen. Und sie hatte auch nie Anzeige erstattet. Die Demütigung war so groß, dass sie es nicht über sich brachte, sich jemandem anzuvertrauen.
An guten Tagen ist sie mit ihrem Leben recht zufrieden, wobei das Wort es eigentlich nicht trifft, zumal längst nicht alles glattläuft und die Albträume immer wiederkehren. Wäre sie zufrieden, würde sie unbeschwerter und mehr in Einklang mit sich selbst leben und nicht, wie es auch immer wieder vorkam, wie eine misstrauische Einsiedlerin. Aber innerhalb dessen, was möglich ist, kann sie durchaus zufrie den sein. Sie ist jung und gesund, sie liebt ihre Arbeit und verdient damit genug zum Leben. Wenn sie morgens den Vorhang aufzieht und die Sonne auf den Noordhollands-Kanal scheinen sieht, hat sie manchmal sogar ein echtes Glücksgefühl.
Wenn nur die Albträume nicht wären. Was tagsüber in den Hintergrund tritt, beschäftigt sie in der Nacht umso intensiver. Davids Tod hat einen weißen Fleck in ihren Träumen entstehen lassen; einer ihrer Dämonen hat keine Macht mehr über sie.
Lange war es ihr gelungen, mit dem Trauma zurechtzukom men. Vor einem halben Jahr jedoch begegnete sie unvermutet David Hoogland. Es war auf dem Rembrandtplein in Amsterdam, und ihr Herz setzte ein paar Schläge aus, als sie ihn mit ein paar anderen aus dem Pub Three Sisters kommen und direkt auf sich zusteuern sah. Obwohl sie am liebsten davongelaufen wäre, blieb sie stehen. Er wollte an ihr vorbei, aber sie hatte ihm den Weg verstellt, fest entschlossen, ihn anzusprechen.
»Hallo David.«
Verdutzt hatte er sie gemustert. »Kennen wir uns?«
Die anderen hatten gelacht, Witze gerissen, und schließlich waren sie alle davongeschlendert.
Sie hatte David nachgesehen und seitdem fortwährend an ihn denken müssen, an ihn und daran, was er ihr angetan hatte.
Auch als sie ihn Monate später in der Kneipe in Alkmaar ansprach, hatte er sie nicht wiedererkannt, nicht einmal bei dem Fototermin. Und das war am allerschlimmsten: Der Mensch, der ihr so lange Albträume verursacht hatte, schien sie vollkommen vergessen zu haben.
27
Remco Leegwater hat vierzehn Tage bei seinen Eltern verbracht und sich gleich nach seiner Rückkehr auf dem Revier gemeldet. Nachdem ihm mitgeteilt wurde, worum es geht, verweigerte er zunächst die Aussage.
Durch den Einwegspiegel verfolgen Lois und Fred seine Befragung durch zwei junge Ermittler.
Leegwater ist achtundzwanzig Jahre alt, groß und neigt zur Korpulenz. Er ist sich inzwischen so oft mit der Hand durch den blonden Schopf gefahren, dass die Haare hochstehen. Auf seiner Stirn perlt Schweiß.
»Er hat Angst«, mutmaßt Lois. »Und keine Ahnung, was er sagen soll, deshalb schweigt er.«
»Wenn er die Vergewaltigung nicht zugibt, müssen wir ihn laufen lassen.
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