Was sie nicht weiss
sich alle zusammen, um sie anzusehen. Ramon hat bereits die Fernbedienung in der Hand und stellt, als jeder Platz genommen hat, den Breitbildfernseher an.
Die körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen, wie eine etwa 1,65 m große Person hereinkommt, die Kapuze des Regenmantels über den Kopf gezogen und eine Tasche über der Schulter. Bevor sie auf die Autos zugeht und damit aus dem Überwachungsbereich verschwindet, ist gerade noch zu sehen, dass die Kapuze abgezogen wird. Dann tut sich eine Zeit lang nichts. Ramon spult weiter, und sie sehen, wie Julian van Schaik durchs Bild taumelt. Er fällt und kommt so zu liegen, dass nur noch seine Beine zu sehen sind.
Minuten später ist die Person im Regenmantel von hinten zu sehen; sie zerrt das Opfer an den Beinen zwischen zwei Autoreihen und damit außerhalb des Kamerabereichs. Nach einer Weile verlässt sie, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, das Autohaus.
»Weitere Besucher hat die Kamera am Eingang nicht aufgezeichnet.« Ramon drückt die Aus-Taste. »Wir haben es sehr wahrscheinlich mit einer Frau zu tun. Darauf deutet der Gang hin, ebenso die Stiefel mit Absätzen. Ganz sicher sein können wir natürlich nicht; es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mann sich als Frau tarnt. Andererseits haben wir genug Hinweise, dass auch Hoogland von einer Frau getötet wurde, also gehen wir auch in diesem Fall davon aus. Wie ihr gesehen habt, trug sie einen Regenmantel mit Kapuze, sodass die Chance gering ist, dass sich Textilfasern oder DNA -Spuren in Form von Haaren finden.«
»Handschuhe hatte sie aber keine an«, bemerkt ein junger Kollege.
»Richtig, und das hilft uns hoffentlich weiter. Auf dem Band war zu sehen, dass sie das Opfer an den Füßen weggezerrt hat. Mit etwas Glück finden wir DNA an den Schuhen, eventuell auch an der Hose, die sie beim Runterziehen ja angefasst hat. Aber die Auswertung kann dauern. Und bisher sind wir mit der DNA bei Hoogland auch noch nicht weitergekommen. Unsere erste Priorität ist deshalb zu verhindern, dass diese Frau einen weiteren Mord begeht. Ach, übrigens hat sich Herr Leegwater vorhin telefonisch gemeldet. Wir haben ihn eindringlich gewarnt und für morgen herbestellt.«
Lois hebt die Hand, und Ramon nickt ihr zu.
»Hat er am Telefon die Vergewaltigung zugegeben?«, fragt sie.
»Nein.« Ramon fährt sich müde über die Stirn. »Wir müs sen ihn noch überzeugen, dass er ein weitaus größeres Problem hat, wenn er dazu schweigt. Bislang hat er das leider noch nicht eingesehen.«
»Vielleicht fällt’s ihm ja wieder ein, wenn er seinen Schwanz im Mund hat«, brummt Nick, der neben Lois sitzt. »Ich hätte nichts dagegen …«
Lois sagt nichts, kann aber ein Grinsen nicht unterdrücken.
Am Abend schaltet Lois zu Hause ihren Computer an. Keine Meldungen von Brian auf Facebook, dafür eine Mail von Onno, der sich mit ihr zum Essen verabreden will.
Seine Telefonnummer steht dabei, doch Lois hat jetzt keine Lust, ihn anzurufen. Sie ist erschöpft, selbst für eine halbe Stunde auf dem Laufband fehlt ihr die Energie.
Rasch schickt sie Onno einen Dreizeiler zurück, der – wie ihr erst unter der Dusche klar wird – wohl etwas schroff ausgefallen ist. Ach was, er als Psychiater wird sich schon denken können, dass sie zu müde war, um ausführlicher zu schreiben.
26
Jetzt, kurz vor Mitternacht, ist die Welt in Dunkelheit gehüllt. Dunkel ist es auch in ihrer Wohnung an der Zeglis, nur die Lampe auf dem Tisch brennt. Tamara hält die Kamera in den Händen und betrachtet noch einmal die Bilder. Das Hochgefühl, das der Mord ihr verschafft, hat sie seit gestern nicht zur Ruhe kommen lassen. Immer wieder beginnt ihr Herz zu rasen. Am liebsten würde sie laute Musik anstellen und dazu tanzen, sich so richtig verausgaben. Doch dann würden die Nachbarn sich beschweren, und sie darf auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen.
Wie des Öfteren in den letzten Wochen fragt sie sich, warum niemand ihr etwas anmerkt. Eigentlich müsste jeder ihre lodernde Wut spüren. Aber die anderen sehen nur, was sie sehen wollen: eine attraktive junge Frau, freundlich und hilfsbereit. Könnten sie in ihren Kopf schauen, wären sie zweifellos entsetzt über den ungezügelten Hass und die finstere Entschlossenheit, keine einzige Demütigung mehr hinzunehmen. Sie würden einen weiten Bogen um sie machen, aus Furcht, mit einem falschen Wort oder einer falschen Geste ihren Zorn auf sich zu ziehen.
Skrupel hat sie einzig wegen Maaike, die – wie sie
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