Was sie nicht weiss
Jahren verstorben ist und dass ihr Mann, Dirk-Jan Scholten, im Alkmaarer Pflegeheim Westerhout wohnt.
Lois blickt sich um. Claudien ist noch immer nicht da, und Fred, wie sie einem Zettel auf seinem Schreibtisch entnommen hat, in einer Besprechung mit Ramon.
Die Tür geht auf, und Jessica kommt gähnend herein.
»Da bist du ja endlich, guten Morgen.« Lois steht auf. »Du brauchst dich gar nicht erst hinzusetzen. Wir fahren zu Herrn Scholten ins Heim.«
Jessica knöpft ihren bodenlangen schwarzen Mantel sofort wieder zu. In letzter Zeit scheint sie auf dem Gothic-Trip zu sein. Sie hat ihr Haar pechschwarz gefärbt und betont die Augen stark mit Eyeliner, Kajal und dunkelviolettem Lidschatten. Steht ihr nicht schlecht, denkt Lois, bleibt nur zu hoffen, dass ihr Aussehen den alten Herrn nicht verschreckt.
Draußen steigen sie in Lois’ Auto, denn die Dienstwagen sind alle belegt.
»Können wir einfach so in dem Heim aufkreuzen, ohne uns vorher anzumelden?«, fragt Jessica, während sie sich anschnallt.
»Wir zeigen unsere Dienstausweise vor, dann geht das schon.«
»Aber alte Leute schlafen doch viel. Vielleicht liegt der Opa ja noch im Bett?«
»Dann wird er eben geweckt«, sagt Lois. »In Pflegeheimen ist der Tagesablauf sehr geregelt, genau wie in Krankenhäusern. Da schläft am Vormittag niemand mehr. Herr Scholten hat bestimmt schon gefrühstückt und seine Medikamente bekommen.«
»Hast du eigentlich noch Großeltern?«
»Seit meinem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr.«
»Ich hab noch alle, zwei Omas und zwei Opas.«
»Schön für dich.«
»Und deine Eltern?«, fährt Jessica fort. »Ich meine, jemand hätte mal erzählt, dass du es früher nicht leicht gehabt hast.«
Die Fragerei geht Lois auf die Nerven. Sie spricht ungern über ihre Privatangelegenheiten, zumal mit Kollegen. Außer mit Fred – ob der sich wohl verplappert hat? Nein, das kann sie sich nicht vorstellen.
»Das stimmt«, sagt sie knapp.
»Deine Eltern leben nicht mehr, oder?« Jessica lässt einfach nicht locker.
»Mein Vater schon, aber mit ihm habe ich keinen Kontakt mehr. Und meine Mutter ist gestorben, als ich einundzwanzig war.«
»Ach je, das tut mir leid.« Jessica wirft ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Hast du nicht auch noch eine Schwester verloren?«
»Ja«, sagt Lois kurz angebunden. »Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich nun lieber über den Fall reden.«
»Entschuldige, ich wollte nicht aufdringlich sein«, sagt Jessica. »Ich kann mir gut vorstellen, dass man so was nie wirklich verwindet.« Sie wendet den Blick zum Fenster und schweigt, aber nur ein paar Sekunden lang. »Du, ich hab noch nie eine Leiche gesehen, am Tatort, meine ich. Wie war das für dich beim ersten Mal?«
Lois schaltet zurück, weil sie auf eine rote Ampel zufahren.
»Es hat gestunken«, sagt sie und tritt auf die Bremse. »Weil Hochsommer war und der Tote erst nach drei Tagen in seiner Wohnung gefunden wurde.«
»Igitt! Wie riecht das denn?«
Lois überlegt kurz. »So als würde man einen Eimer mit benutzten Damenbinden nach ein paar Wochen aufmachen, nur schlimmer.«
Jessica lacht los. »Voll cool, das erzähl ich demnächst meinen Freunden beim Essen!«
Die restliche Fahrt über herrscht Ruhe, sehr zu Lois’ Erleichterung. Fred hat, wie sie, nicht viel für Plaudereien übrig, und schon gar nicht würde es ihm in den Sinn kom men, sie derart penetrant auszufragen. Was er an Privatem über sie weiß, hat sie aus eigenem Antrieb erzählt. Wieder wird ihr schmerzlich bewusst, dass Fred bald nicht mehr im Dienst ist und sie sich dann auf einen neuen Partner einstellen muss.
Aus dem Augenwinkel blickt sie zu Jessica hinüber und hat plötzlich eine düstere Vorahnung.
35
Das Pflegeheim Westerhout liegt im Emma-Kwartier, einem alten Stadtteil unweit des Zentrums. Dort lebt der einundachtzigjährige Dirk-Jan Scholten seit vier Jahren.
»Erschrecken Sie nicht, wenn Sie ihn sehen«, sagt die junge Pflegerin, die Lois und Jessica begrüßt hat und sie nun zu ihm führt. »Herr Scholten ist ein ausgesprochen net ter Mensch, aber sehr gebrechlich und etwas schwerhörig. Sie bringen doch hoffentlich keine schlechten Nachrichten?« Sie wirkt besorgt. »Er hat es nämlich am Herzen und darf sich nicht aufregen.«
»Darauf nehmen wir Rücksicht«, verspricht Lois und wendet sich dann an Jessica: »Ich rede mit ihm, du machst Notizen.«
»Hier ist es.« Die Pflegerin bleibt stehen, klopft an eine Zimmertür und öffnet sie. »Herr
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