Was sie nicht weiss
Amsterdam, fand sie in ihrem Zimmer stümperhaft gemalte Bilder vor, die mit einem großen T signiert waren, und eines Tages lag in der Kommodenschublade eine sündhaft teure Kamera samt Beleg, bezahlt mit ihrer Karte.
Die Angst, für verrückt erklärt zu werden, hielt sie davon ab, jemandem von diesen Vorkommnissen zu erzählen. Es war aber alles andere als einfach, ihre Probleme, die sie für eine Geistesstörung hielt, zu kaschieren.
Im zweiten Jahr an der Kunstschule lernte sie Daniela kennen. Sie freundeten sich an, und Daniela mit ihrer zugewandten Art merkte bald, dass etwas nicht stimmte. Durch geduldiges Nachfragen gelang es ihr, sie aus der Reserve zu locken. Daniela war es auch, die ihr riet, sich in psychologische Fachliteratur zu vertiefen und so mehr über ihre Störung zu erfahren. Sie erwies sich zugleich als ebenso verlässliche wie verschwiegene Freundin.
Dank Danielas Unterstützung ging es ihr besser – die anderen Persönlichkeiten traten nicht mehr oft zutage, so als spürten sie, dass sie seltener gebraucht wurden. Wie viele es waren, wusste Maaike erst nicht. Nur die stärkste kannte sie dem Namen nach: Tamara. Sie tauchte dann auf, wenn Maaike sich einer Situation nicht gewachsen fühlte.
Weil sie nun um ihre Störung wusste und sich von ihr befreien wollte, hatte Maaike schließlich einen Therapeuten aufgesucht. Als er ihr jedoch eröffnete, dass sie sich auf einem langwierigen Weg den schmerzhaften Traumata der Vergangenheit würde stellen müssen, brach sie die Sitzungen ab, überzeugt, dass es besser sei, mit ihrem »Handicap« umgehen zu lernen, als alte Wunden aufzureißen.
Maaike weiß, dass Tamara keine eigenständige Person ist, sondern lediglich ein Alter Ego, dennoch kommt es ihr oft vor, als wären die Rollen umgekehrt. Es ist Tamara, die wichtige Entscheidungen für sie trifft, die bestimmt, wann es an der Zeit ist, den Wohnort zu wechseln, und die verhindert, dass sie enge Beziehungen zu anderen Menschen aufbaut. Nur ihre Freundschaft mit Daniela war bisher eine Art Tabu für Tamara, denn sie festigte sich in einer Phase, als es Maaike relativ gut ging.
An die Zeit vor ihrem elften Lebensjahr hat sie lediglich schemenhafte Erinnerungen, ebenso an den Autounfall, bei dem ihre Eltern umkamen. Sie weiß nur, dass es passierte, als sie auf dem Weg zu den Großeltern waren. Weil sie eingeklemmt war, muss sie schlimme Schmerzen und große Angst gehabt haben, doch daran erinnern kann sie sich nicht. Wenn sie an den Unfall denkt, sieht sie keine Bilder ihrer blutüberströmten Eltern vor sich, und kann nur vermuten, dass es in dem Autowrack durchdringend nach Benzin gerochen haben muss. Dabei war sie, wie die Rettungssanitäter ihren Großeltern mitteilten, bei vollem Bewusstsein, als man sie aus dem Wagen holte.
Maaike glaubt, dass Stefanie, ihr zweites Alter Ego, die Erinnerungen an den Unfall übernommen hat, um ihr die Last zu erleichtern.
Wie ein Tag wird, merkt Maaike oft schon morgens beim Aufwachen. Wenn sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlt, weil etwas ihr Sorgen bereitet, ist das ein schlechtes Vorzeichen. Häufig passiert dann auch, was sie befürchtet, und sie wird sich erst am Abend oder gar am nächsten Morgen wieder ihrer selbst bewusst. Herauszufinden, was genau in der fehlenden Zeit geschehen ist, erweist sich als schwierig bis unmöglich. Nur ab und zu fällt ihr etwas in die Hände, beispielsweise ein Kaufbeleg in der Jackentasche oder ein Zettel mit Tamaras Handschrift. Und immer wieder findet sie Botschaften auf ihrem Handy, die nicht für sie bestimmt sind.
Bei den Morden an David und Julian ahnte sie gleich, dass Tamara die Hände im Spiel hat, auch wenn sich in ihrem Atelier nicht der geringste Beweis fand. Sie wusste jedoch, dass ihr Alter Ego sich in einer Wohnung an der Zeglis eingenistet hatte, denn dort war sie ein Mal zu sich gekommen und in Panik sofort davongelaufen. Noch ein weiteres Mal war sie dort, um sich genau umzusehen, denn sie wollte um jeden Preis verhindern, dass noch mehr Morde geschehen. Taten, die sie zutiefst verabscheut, für die sie aber dennoch verurteilt werden kann.
Eigentlich kann es nur einen Grund geben, weshalb sie in diesem Zimmer ist: Ihr Alter Ego ist geflohen. Die ganzen letzten Wochen schon hatte Maaike Angst, die Polizei würde Tamara auf die Spur kommen. Was ist bloß passiert, dass sie Hals über Kopf hierhergefahren ist?
Maaike legt sich aufs Bett, schließt die Augen und sucht nach ihrer letzten bewussten
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