Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
gewachsener Mann mit der Hand erreichen kann, wirkt beklemmend und deprimierend, wie sich an der ersten konsequent nach Modulor-Maßstab gebauten „Wohnmaschine“ zeigte, der Unité d'Habitation in Marseille von 1947. Für das Hochhaus, das Corbusier 1957 im Rahmen der internationalen Bauausstellung in Berlin baute, rückte er deshalb selbst vom Modulor-Raster ab und passte die Deckenhöhe auf auch nicht besonders lichte 2,50 Meter an.
Zwar gilt der Modulor bis heute als eine der bedeutendsten Schriften der Architekturgeschichte, mit der sich jeder Architekturstudent zwangsläufig einmal auseinandersetzen muss. In der Architektur selbst spielt das Modulor-Raster aber fast keine Rolle mehr. „Es ist ein System, das so in sich selbst ruht, dass man keine äußeren Faktoren haben dürfte, die auf den Entwurf einwirken“, erläutert der Zürcher Architekt und Architekturtheoretiker Lukas Imhof, der als Begründer des Midcomfort-Konzeptes eine zugängliche, moderate und zugleich anspruchsvolle „Architektur für alle“ vertritt. „Äußere Faktoren hat man aber immer: Das Grundstück ist begrenzt, es gibt Fluchtinien, Baugesetze, feuerpolizeiliche Vorschriften und so weiter. Deshalb kannman den Modulor in der Praxis praktisch nicht gebrauchen. Es sei denn, man entwirft völlig autistisch eine Villa im Nichts – wie Corbusier das natürlich ab und zu machen konnte.“
Dennoch ist die zentrale Idee von einer am menschlichen Körper orientierten Architektur in angepasster Form auch heute noch wirksam. Sie liegt etwa der Bauentwurfslehre von Ernst Neufert zugrunde, die mittlerweile in der 39. Auflage als Standardwerk in so ziemlich jedem Architekturbüro steht. Festgelegt sind darin die Idealmaße für Wohnhäuser, Einrichtungen, Flughäfen, sogar für Stallungen und Grabstätten. Schon die erste Ausgabe von 1936 enthielt über 3.000 Zeichnungen. Auch Neufert, selbst Bauhaus-Architekt und Gropius-Schüler, ging davon aus, dass die Architektur des Menschen – und damit die menschliche Architektur – auf dem Goldenen Schnitt basieren sollte. Das übergeordnete Motto lautete jedoch pragmatisch: „Gut ist, was zusammenpasst.“ Deshalb erfand er als eine Art Meta-Norm das Oktameter-Raster mit einer Basis von 1,25 Metern, einem Maß, das er auf mirakulöse Weise aus den Körperproportionen herausdestilliert hatte.
Zur Anwendung kam es, als Neufert von den Nazis, namentlich Alber Speer, zum Beauftragten für die Standardisierung des Berliner Wohnungsbaus ernannt wurde. In dieser Funktion erklärte er das „Industriebaumaß“ von 2,50 Metern zum Standard, das 1942 als DIN-Norm für Unterkunfts-, Industrie- und Militärbauten festgeschrieben wurde. Hätte Hitler den Krieg gewonnen, würde Europa wohl heute von diesem Raster dominiert, denn zum Schluss träumte Neufert von einer vollständig nach dem Oktameter standardisierten Industriefertigung und riesigen Hausbaumaschinen, die vierstöckige Häuser ausspucken und eine Spur gleichförmiger Wohnblocks hinter sich herziehen sollten. Dagegen nahmen sich Albert Speers Umbaupläne für die Hauptstadt Germania fast bescheiden aus.
In der Nachkriegszeit wurde Neuferts Gesamtkunstwerk der Gleichmacherei unter anderem von seinem Sohn Peter, der die Bauentwurfslehre weiterführte, nicht nur ideologisch bereinigt, sondern immer wieder pragmatisch mittels Erfahrungswerten an die Erfordernisse der Zeit angepasst: Ein Reihengrab für Erwachsene hat demnach die Maße 210 mal 75 Zentimeter, die Ausschachttiefe beträgt 2 bis 2,5 Meter. Ein Toilettensitz hat mindestens 40 Zentimeter hoch zu sein, ein Esstisch wenigstens 78 Zentimeter.
Aufschlussreich sind auch die Neufertschen Angaben für die Komfortzone, die es braucht, damit ein Mensch sich an einem Tisch wohlfühlt und genügend Platz zum Essen hat: Er muss 60 Zentimeter der Tischbreite beanspruchen können (ursprünglich waren es bei Ernst Neufert aus dem Oktameter-Raster hergeleitete 62,5 Zentimeter). Vielleicht nicht rein zufällig ist dieses 60-Zentimeter-Maß in heutigen Küchen allgegenwärtig: Kühlschränke, Waschmaschinen, Wäschetrockner und Spülmaschinen haben standardmäßig eine Grundfläche von 60 mal 60 Zentimetern, von der nur bei schmalen Sonderformen abgewichen wird. Auch bei Edelstahlmöbeln für Gastronomieküchen gilt dieses Raster, ebenso haben Spülen und Arbeitstische eine Standard-Tiefe von 60 Zentimetern, nur bei Groß- und Industrieküchen findet man 70 oder 80 Zentimeter.
Es ist zwar nicht ganz
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