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Was Sie schon immer über 6 wissen wollten

Was Sie schon immer über 6 wissen wollten

Titel: Was Sie schon immer über 6 wissen wollten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holm Friebe
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klar, welche Ursprünge das 60-Zentimeter-Standardmaß tatsächlich hat, aber zumindest im Schweizer Maßsystem SINK, das eine schmalere Breite von 55 Zentimetern vorsieht, wurde es von der mittleren Armlänge abgeleitet. In der Proxemik, der Wissenschaft von den sozial als situativ angemessen empfundenen Abständen, markieren 60 Zentimeter den Punkt, an dem eine nahe persönliche Distanz zu einer intimen wird. Zudem machen sich bei der 60 wieder einmal die Teilereigenschaften positiv bemerkbar: Sie fügt sich als Dreh- und Angelpunkt sowohl in die typischen Abmessungen der 10er-Reihe (200, 300, 400, 500, 600, 1000 Millimeter), als auch der 15er-Reihe ein (300, 450, 600, 900, 1200 Millimeter), die beide in der europäischen Norm für Küchenmöbel und Küchengeräte EN 1116 festgelegt sind. Und wenn es einen Ort gibt, der maßgeblich für das menschliche Maß ist, dann ist es die Küche.
    Aus der Proxemik ergeben sich noch weitere Zonen und Schwellenwerte, und zwar für zwischenmenschliche Distanzen: 1 bis 1,5 Meter entsprechen einer persönlichen Distanz, die eine gewisse Vertrautheit voraussetzt. 1,5 bis 2 Meter markieren eine nahe gesellschaftliche Distanz, etwa bei Geschäftsgesprächen. Bei über 2 Metern beginnt der Abstand, mit dem Fremde sich im öffentlichen Raum unverbindlich begegnen können, wobei Männer grundsätzlich mehr Distanz wahren und Raum für sich beanspruchen als Frauen. Auch ist die personal space bubble stark von kulturspezifischen Konventionen abhängig. In Lateinamerika und dem Mittleren Osten wird der persönlichen Intimsphäre weniger Raum zugemessen als in Skandinavien und Asien.
    Ansonsten gilt, was Gerd-Lothar Reschke im Ideenjournal für Architektur als Begriffsklärung vorschlägt: „Das menschliche Maß ist zweierlei: eine numerisch messbare Größe und ein subjektives Empfinden.“ Harmonische Proportionen und als menschenfreundlich empfundene Dimensionen lassen sich eben nicht büro- und technokratisch aus Rastertabellen ableiten, sondern sind zumeist das Ergebnis von Intuition, Augenmaß und gesundem Menschenverstand. Selbst Protagoras, ein griechischer Philosoph, der kurz nach Pythagoras gelebt hat und als Erster den Gedanken vom menschlichen Maßstab klar formulierte, präzisiert in seinem von Platon kolportierten „Homo-Mensura-Satz“: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, wie sie sind, und der Nichtseienden, wie sie nicht sind.“ Womit klar wird, dass das Postulat seine Stärken eher im Allegorischen und Erkenntnistheoretischen hat als in einer numerischen Quantifizierung – denn nichtexistente Dinge können schlecht an Körpermaße angepasst werden.
Small is beautiful
    Seit den Anfängen abendländischen Denkens gibt es das Plädoyer, die Kirche im Dorf zu lassen, Maß zu halten und die Dinge überschaubar, einfach und menschlich zu gestalten. Die Ökonomie, die uns heute als monströses, stahlhartes Gehäuse der Moderne erscheint, hieß im antiken Griechenland ursprünglich oikonomika : die Lehre des Haushalts, sprich: der Hauswirtschaft, die nicht auf Profitmaximierung aus war. Schon bei Aristoteles ist daraus hergeleitet das sittliche, gute Leben der Maßstab jeder Ökonomie.
    Später erhob Jean-Jacques Rousseau, Vordenker der Französischen Revolution wie der Romantik, das menschliche Mittelmaß zur Analogie für die optimale Größe des Gemeinwesens. „Wie die Natur dem Wuchs eines normalen Menschen Grenzen gesetzt hat, über die hinaus sie nur Riesen und Zwerge hervorbringt“, schreibt er in seinem Contrat Social, „so steht es auch mit dem Optimum der Grenzen und Ausdehnung des Staates, damit er nicht zu groß wird, um noch gut regiert zu werden, und nicht zu klein, um sich selbst erhalten zu können.“ Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Anthropomorphisierung des Staates eine weit verbreitete Denkfigur.
    Ebenso gehört der Verweis aufs menschliche Maß zum rhetorischen Standardrepertoire einer Politik der Entschleunigung und des Maßhaltens. Stellvertretend für alle Sonntagsredner forderte etwa Johannes Rau in seiner Funktion als Bundespräsident 2001 im Interview mit der Welt am Sonntag : „Fortschritt braucht ein menschliches Maß“ – nur: Wo hört das auf? Wann kippt der Maßstab ins Über- oder Unmenschliche? Lässt sich das menschliche Maß in Zahlen ausdrücken und gibt es Regeln dafür?
    Nicht nur die subjektiven Qualitäten menschlicher Architektur zu formalisieren, sondern eine ganze Philosophie lebendiger Gestaltung zu

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