Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
überragende Vorteil sei aber gar nicht die einfache Handhabung, sondern der Kommunikationswert gegenüber Kunden, „nach dem italienischen Motto ‚Se non è vero, è ben trovato‘ – ‚Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden‘“: Auftraggeber ließen sich von Fibonacci leicht um den Finger wickeln, weil das Prinzip einen hohen Erzählwert hat.
So behauptet zum Beispiel Siemens, seine gesamte Corporate Identity nach der Fibonacci-Folge aufgebaut zu haben. „An den Haaren herbeigezogen“, findet Spiekermann, weil mit bloßem Auge gar nicht wahrnehmbar. Fibonacci sei nur eines von vielen möglichen Gestaltungsrastern, und „es ist vollkommen egal, ob angeblich die Spiralmuschel so aufgebaut ist oder das Blatt von einem bestimmten Baum“. Wenn man ansonsten aber keine Idee hat, woran man sich orientieren soll, um Dinge rhythmisch, dynamisch und gleichzeitig vertraut erscheinen zu lassen, ist es sicher nicht die schlechteste Wahl, denn, so Spiekermann, „irgendwas muss man ja machen“.
Wie der Goldene Schnitt, so haben die Fibonacci-Zahlen ausgewiesene Fans auch außerhalb der grafischen Gestaltung, die damit – jenach Standpunkt – die Welt erklären oder Kaffeesatzleserei betreiben. In Dan Browns Thriller-Bestseller Sakrileg taucht die Fibonacci-Folge mehrfach auf, unter anderem in umgekehrter Reihenfolge als Code zum Öffnen eines Tresors. Der italienische Arte-Povera-Künstler Mario Merz hatte sie quasi zu seinem Markenzeichen gemacht: In fast jeder seiner Installationen war die Fibonacci-Reihe in Neon-Leuchtschrift vertreten. Besonders Chartanalysten, denen jedes Mittel willkommen ist, um aus dem chaotischen Rauschen an der Börse Muster herauszulesen, suchen und finden in den Zacken und Sprüngen von Aktienkurven Fibonacci-Zahlen und -Verhältnisse. Vermutlich fahren sie damit gar nicht einmal so schlecht, denn mehr noch als beim Goldenen Schnitt in der bildenden Kunst gilt bei der technischen Chartanalyse an der Börse: Je mehr Menschen davon überzeugt sind und daran glauben, desto eher wird etwas zur Realität, zur self-fulfilling prophecy .
Jemand, der diese Stimmungsabhängigkeit zur eigentlichen Triebfeder der Weltläufte erhebt, ist der Komplexitätsforscher John Casti. In seinem jüngsten Buch Mood Matters macht er die These stark, dass nicht reale Ereignisse die Trends in der Gesellschaft bestimmen, sondern erratische Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung. Diese wiederum folgten – wie etwa die Entwicklung des Goldpreises – fraktalen Mustern, die sich über die Fibonacci-Folge entschlüsseln lassen. Casti greift dabei auf die Elliott-Wellen zurück, benannt nach Ralph Nelson Elliott, der in den 1930er Jahren als Erster solche Muster sich überlagernder Wellen an der Börse ausgemacht haben will, deren Frequenzen sich nach Fibonacci richten. Wie alle Formen sozialer Mustererkennung unterliegen auch Castis These und die Elliott-Wellen dem Konstruktivismus-Verdacht von in das Chaos hineingeheimnisten Regelmäßigkeiten und sind massiver Kritik ausgesetzt – was ihre Anhängerschaft nur noch im Glauben bestärkt, den Stein der Weisen gefunden zu haben.
Erwähnt sei noch, dass die Fibonacci-Zahlen nicht nur Spiralen und dynamische Systeme strukturieren, sondern auch hinter vielen komplexen Symmetrien in der Natur stecken. Radialsymmetrien sind nicht an einer Achse gespiegelt, sondern kreisförmig um einen Punkt herum angeordnet. Bei Blumen folgt die Zahl der Blütenblätter oft der Fibonacci-Folge. Lilien haben drei Blätter, Butterblumen und Apfelblüten fünf, die Dahlie in der Regel acht, Ringelblumen 13, Astern 21, Gänseblümchen 34, 55 oder 89, manche Sonnenblumenbringen es sogar auf 144. Allerdings durchkreuzen Narzissen und Tulpen mit ihrer Sechsersymmetrie das Muster, denn die 6 ist keine Fibonacci-Zahl.
Deshalb lässt sich vermuten, dass wir Radialsymmetrien generell schön finden, unabhängig von der Anzahl – und Blumen generell schön, unabhängig von der Zahl ihrer Blütenblätter. Wie Albrecht Beutelspacher, ein poetisch veranlagter Mathematiker in der Berliner Zeitung über „Die Schönheit der Struktur“ in der Natur schreibt: „Wir nehmen es als etwas Schönes wahr, weil es so klar, so deutlich, so strukturiert ist. Wir können es überhaupt nur wahrnehmen, weil es Struktur hat, weil es ein Muster bildet. Wir sehen die auffällige Symmetrie der Osterglocken und der Tulpen, den Blütenstand der Forsythien und die aparte Symmetrie der Apfelblüten.
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