Was uns nicht gehört - Roman
sagte ich: «Er hat nur noch mich, aber er erkennt mich nicht mehr.»
Maria hob ihre Beine über die Mauer auf die Seite des Uferwegs und stand auf. Sie ging ein paar Schritte hin und her, als würde sie nachdenken, bevor sie schließlich in meinem Rücken stehenblieb und mich an den Schultern fasste.
«Nur dass ich das richtig verstehe», sagte sie, leicht über mich gebeugt, «dein Vater liegt irgendwo allein in einem Heim, und du fährst hier mit mir durch die Gegend und hörst mir zu, wie ich französische Lieder singe?»
«Er vermisst mich nicht. Er weiß gar nicht, dass es mich gibt.»
«Woher willst du das wissen? Vielleicht tut er den ganzen Tag nichts anderes, als dich zu vermissen, und kann es nur nicht sagen, weil es in seinem Kopf nichts mehr gibt, was Vermissen und Sohn in einem Gedanken unterbringen kann.»
Maria nahm ihre Hände von meinen Schultern, und Augenblicke später spürte ich, wie sie sie unter meine Achseln schob und mir bedeutete aufzustehen. Ich drehte mich zu ihr um und sah sie fragend an.
Sie nickte. «Bis morgen Nachmittag sind wir wieder zurück.»
«Sofort?»
«Ja», sagte Maria, «sofort.»
IV Das Verhältnis meines Vaters zur Musik war ein Mysterium, und schon kurz hinter Bingen fragte ich mich, wie ich auf die Idee, Maria um ein paar Lieder für ihn zu bitten, überhaupt hatte kommen können. Ich war mir sicher, dass er kein einziges Konzert in seinem Leben besucht hatte, und wenn doch, dann war er aus Versehen dort hineingeraten, warum also jetzt damit anfangen? Lange Zeit waren wir ein Haus ganz ohne Musik gewesen, eine Tatsache, die mir erst in dem Moment wirklich aufgefallen war, da wir im Musikunterricht aufgefordert wurden, die Lieblingsplatte unserer Eltern von zu Hause mitzubringen, und ich der einzige war, der mit leeren Händen in die nächste Stunde kam. Zwar gab es im Wohnzimmer meiner Eltern einen Plattenspieler, der zudem an exponierter Stelle inmitten unserer Schrankwand stand, aber außer ein paar alten Weihnachtsplatten besaßen wir nichts, was wir darauf hätten abspielen können, und bevor ich mit einer Weihnachtsplatte in den Unterricht kam, kam ich lieber mit nichts.
Die Sache mit der Musik in unserem Haus änderte sich erst, als meine Großmutter starb. Ich hatte sie kaum gekannt, und es war mir immer so vorgekommen, als ob auch mein Vater sie kaum kannte, zu Besuch bei ihr waren wir jedenfalls nie, und das einzige, was ich von ihr wusste, war, dass sie einmal deutsche Meisterin im Rhönrad-Turnen gewesen war. Mein Vater war drei Tage lang verreist, um ihre Wohnung auszuräumen, und als er zurückkam, hatte er das Auto voller Taschen und Koffer, die ungeöffnet in den Keller wanderten und die dort unverändert noch immer standen, als ich selbst zwanzig Jahre später das Haus meiner Eltern auflöste.
Das einzige Stück, das meinen Vater unter all dem mitgebrachten Krempel interessierte, war eine alte, mit reichlich Flugrost behaftete Querflöte, die er im Schlafzimmer hinter einem Stapel Bettwäsche gefunden hatte. Die Frage, warum meine Großmutter sie dort versteckt hielt, ließ sich nicht mehr beantworten, so wenig wie die, wer sie einmal gespielt hatte, aber all das interessierte meinen Vater nicht. Schon am Abend seiner Rückkehr versuchte er der Flöte erste Töne zu entlocken, und auch wenn sich das Instrument hartnäckig dagegen sperrte, war der Ehrgeiz meines Vaters geweckt.
«Ihr werdet schon sehen», sagte er und verzog sich fortan jeden Abend zum Üben in den Wirtschaftsraum meiner Mutter, und obwohl von dort tatsächlich bald schon erste Flötengeräusche zu uns nach draußen drangen, sahen wir nichts. Nichts von irgendwelchen Fortschritten, die sich auch nach Monaten auf einzelne Töne beschränkten, die er bisweilen sauber traf, und nichts von meinem Vater selbst, der nie vergaß, die Tür hinter sich sorgfältig zu verschließen und sich so im Zimmer zu plazieren, dass jeder Versuch, einen Blick durchs Schlüsselloch auf ihn zu erhaschen, buchstäblich ins Leere ging.
Anders als meine Mutter und ich schien mein Vater von der Mühsal des Musizierens gänzlich unbeeindruckt. Im Gegenteil intensivierte er sein Bemühen noch und kaufte gleich mehrere Selbstlernbücher, die angeblich keine Vorkenntnisse, wohl aber ein Mindestmaß an Talent voraussetzten, ein Talent, von dem mein Vater völlig unbefleckt war. Weit mehr als an seinen falschen Tönen litt ich freilich darunter, dass er sich so offenkundig um etwas mühte, das er nie würde
Weitere Kostenlose Bücher