Was vom Tode übrig bleibt
Menschen fragen werden oder auch sollen. Selbstmordgefährdete machen sich darüber oft lange Gedanken. Und wenn sie die Lösung gefunden haben, sind sie glücklich, als fiele ihnen eine unglaubliche Last von den Schultern.
Das liest sich jetzt zynisch, aber man kann es selbst anhand der Reaktionen auf Selbstmorde nachvollziehen. Einer der meistgehörten Sätze ist: » Selbstmord? Unmöglich! Er hat doch noch letzte Woche ein Auto gekauft.« Oder eine neue Schrankwand oder eine sündteure Golfausrüstung. Das interpretieren die Menschen dann als ein Zeichen des Lebenswillens und der ungebrochenen Lebensfreude. Es ist aber das genaue Gegenteil: Es ist der Flash der Erleichterung. Wochen, Monate, Jahre hat der Selbstmörder gegrübelt, wie er sich am besten umbringt. Und sobald er seinen Weg gefunden hat, geht’s ihm gut, so gut, dass er aufspringt und sich einen Sportwagen kauft. Vor lauter Freude darüber, dass er jetzt weiß, wie er sterben wird. Und die Methode kann dabei noch so abstrus sein. Wir haben einmal einen Mann gefunden, der hat sich erhängt und erschossen. Das klingt wie ein schlechter Witz, aber diese Geschichte ist wirklich passiert. Der Selbstmörder hat sicherheitshalber ein Video von seiner Selbsttötung angefertigt, damit niemand wegen Mordes gesucht wird. Die Polizei, die die Wohnung mit uns geöffnet hat, hat sich natürlich das Filmchen sofort angesehen. Es war wirklich Selbstmord, wie ich bestätigen kann.
Auch bei unserem Lastwagenfahrer haben sie zu Hause einen Abschiedsbrief gefunden. Damit war der Fall erledigt, der Mann wurde abtransportiert und hier standen wir nun, Klaus und ich.
Wir haben zuerst Folien ausgelegt und dann ausgebaut, was nicht zu retten war. Die Fußmatten, den gesamten Bodenbelag im Innenraum. Nicht zu retten und nicht zu retten ist übrigens nicht immer dasselbe. Die vollgesaugten Teppichböden waren definitiv nicht mehr zu retten im Sinne von: hinüber. Die Fußmatten aus Gummi hingegen hätte man wohl wieder hinbekommen können. Aber wenn man den Zeitaufwand hochrechnet– für den Stundenlohn eines Tatortreinigers kann man sich einen wirklich hohen Stapel neuer Fußmatten kaufen, also schmeißt man sie weg. Das gehört dann auch zu unserem Job, dass wir hier keine Arbeitszeit schinden und die Kosten erhöhen, sondern für den Kunden mitdenken. Der Sitzbezug des Fahrer- und Beifahrersitzes flog ebenfalls raus und der Schaumstoff darunter auch, denn alles war so vollgesogen mit Blut, dass man es hätte auswringen können. Das Führerhaus war nun im Fußraum komplett ausgeweidet, wir standen vor dem weiß lackierten Stahlboden. Und wir stellten fest, dass wir die falschen Overalls dabeihatten.
Unsere Standardoveralls sind weiß, wie der, den ich auf dem Umschlagfoto anhabe. Tadellose Overalls aus einem leichten, aber dichten Stoff– aber eben nur einem relativ dichten Stoff. Das ist nicht die Schuld der Firma, das ist üblich: Kein Stoff ist wirklich dicht. Dichtigkeit bedeutet nur, dass der jeweilige Stoff einen bestimmten Wasserdruck aushält. Ein Stoff ist dicht, wenn man eine Plastikröhre daraufstellt, diese mit Wasser füllt und bei einem Wasserstand von zwei Metern unten nichts durchtropft. Aber je nach Stoffart presst der Druck ab einer bestimmten Füllhöhe natürlich trotzdem Wasser durch. Wir stellten beim Wischen fest: Das gilt nicht nur für Wasser. Wenn wir mit unseren Overalls an einem frischen Blutfleck entlangstreiften, passierte natürlich nichts. Aber wenn wir mit einem Bein in einer Blutpfütze knieten und uns dann vielleicht auch noch auf dieses Knie stützten, dann wurde es rund um die Kniescheibe plötzlich nassfeucht. So, als ob man im Regen festgestellt hätte, dass jetzt der Moment gekommen ist, in dem die Jacke durchweicht. Und in solchen Momenten braucht man eine gewisse Nervenstärke oder Gleichmütigkeit.
Wir ziehen uns ja deshalb sorgfältig an, damit wir in unseren Anzügen geschützt sind. Wir benötigen dieses Wissen, unverwundbar gegen Schmutz zu sein, als Puffer gegen den eigenen Ekel. Und die Erkenntnis, dass dieser undurchdringliche Schutzpanzer am Knie durchweicht und Blut in die Hose sickert, ist dann doch ziemlich beunruhigend. Gut, wir hatten den Wagen natürlich vorher desinfiziert. Aber trotzdem. Ich sagte Klaus, er solle draußen bleiben. Und dann begannen wir von außen das Wageninnere oberflächlich aufzuwischen.
Wir hatten große Rollen Einwegpapier für den medizinischen Bereich dabei, das saugt mehr und ist
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