Was vom Tode übrig bleibt
Kampf aufgenommen.
Sie hatte sich Bestrahlungen unterzogen, einer Chemotherapie, eben allem, was dazugehört. Und die Therapie hatte gut angeschlagen. Die Metastasen waren allmählich verschwunden, erzählte mir die alte Dame, die Ärzte hatten ihrer Tochter bereits Hüftknochen entnommen, daraus einen neuen Kiefer gebastelt und ihn ihr eingesetzt, sie hatten Haut von der Körperseite in ihr Gesicht verpflanzt. Nur die Bestrahlungen sollten jetzt noch eine Weile fortgesetzt werden, was eigentlich fast schon reine Routine geworden war. Wenn man die Diagnose Krebs bekommt, ist man anfangs oft geschockt, aber man gewöhnt sich daran, und wenn die Behandlung auch noch Wirkung zeigt, dann ist man wieder voll Hoffnung. Man kann den Krebs schließlich teilweise oder auch ganz besiegen, viele haben es schon geschafft, warum nicht auch diesmal? Das Ganze hatte nur einen Haken: Die Bestrahlungen waren enorm anstrengend.
Die Tochter hatte zuletzt nur noch 40 Kilo gewogen. Aber noch belastender waren die Bestrahlungen für die Blutgefäße. Und deswegen hatte die Tochter nach ihren Bestrahlungssitzungen auch immer bei ihren Eltern übernachtet. Weil sie gewusst hatte, wie strapaziert ihr Körper war, weil sie Angst gehabt hatte und nachts nicht allein sein wollte. Aber dann passierte es eben trotzdem. Es mag schon sein, dass man sich in der Wohnung der Eltern vielleicht sicherer fühlt als anderswo, aber in Wirklichkeit ist man es natürlich nicht. Nicht, wenn einem die Arterie am Hals platzt.
Die Blutung riss die Tochter aus dem Schlaf, sie hatte gemerkt, was passiert war, sie war aufgestanden und hatte verzweifelt nach ihrer Mutter gerufen. Sie war durch die Wohnung getaumelt und aus ihrer Halsschlagader spritzte das Blut in alle Himmelsrichtungen. Ihre Mutter wachte auf, kam zu ihr, sie versuchte die Blutung zu stoppen, sie hat Tücher auf die Wunde gepresst, aber diese Blutung hätte kein Mensch der Welt zum Stillstand gebracht, und selbst wenn sie es geschafft hätte, selbst wenn sie die Arterie mit irgendetwas hätte abklemmen können, was groß genug dafür gewesen wäre, dann wäre ihre Tochter nicht zu retten gewesen: Ohne Blut gibt es keinen Sauerstofftransport, und wenn der Blutverlust zu hoch ist und das Gehirn zu lange keinen Sauerstoff mehr bekommt, sind die Schäden einfach nicht wiedergutzumachen. Und so ist ihre Tochter in ihren Armen gestorben.
Die Mutter war fassungslos. Am Abend zuvor hatte sie noch ein krankes Kind gehabt, das sich auf dem Weg der Besserung befand. Jetzt war alles, was ihr geblieben war, eine Wohnung, die aussah wie der Hotelflur in » Shining«. Fünf Liter Blut sind in einem Menschen dieser Größe, aber manchmal könnte man schwören, es wären 50 . Der Teppich vor dem Bett war voll wie ein Schwamm. Wenn man drauf trat, klang es wie eine Wiese nach 14 Tagen Dauerregen. Mein Kollege traf ein. Wir bauten unsere Ausrüstung auf. Wir bereiteten uns vor, stiegen in die Overalls. Spätestens zu diesem Zeitpunkt gehen die meisten Menschen aus dem Zimmer, aus der Wohnung, aus dem Weg. Doch das alte Ehepaar blieb an unserer Seite. Der Mann sah uns zu, die Mutter suchte regelrecht unsere Nähe.
Ich glaube, das lag daran, dass sie ihrer Tochter nicht hatte helfen können. Dabei hatte sie ihr doch ihr ganzes Leben lang geholfen. Sie hatte sie gewickelt, getröstet, sie bei den Hausaufgaben unterstützt, dann vielleicht bei der Wohnungseinrichtung, hatte auf die Enkel aufgepasst. Aber als die Tochter starb, zählte das alles nicht mehr. Es war für die Mutter, als hätte sie im entscheidenden Moment versagt. Ihre Tochter hatte sie gerufen und sie hatte sie nicht gerettet. In diesem Moment war es egal, ob die Tochter fünf war oder 15 oder 50 . Also ließen wir sie mitmachen, wo es möglich war.
Wir haben die Wohnung erst einmal mit Kohrsolin desinfiziert, aus den normalen Hygienegründen, aber in diesem Fall auch wegen eines konkreten Anlasses. Eines der kleineren Probleme der Verstorbenen war gewesen, dass sie sich im Krankenhaus einen MRSA eingefangen hatte, einen dieser multiresistenten Krankenhauskeime, die vor allem Menschen, die von einer Chemotherapie geschwächt sind, zusätzliche Probleme bereiten und im Ernstfall auch zu tödlichen Lungenentzündungen führen können. Außerhalb des Körpers sind diese Viren nicht mehr ganz so zäh, insofern genügte hier die Standarddesinfektion. Dann machten wir uns an die Beseitigung des Blutes.
Wir wischten mit Eiweißreiniger das Blut von den
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