Was vom Tode übrig bleibt
Wänden, den Türen, den Türeinfassungen, was noch ziemlich einfach ging. Dann sammelten wir das Bettzeug ein und die Matratze. Das eigentliche Problem war allerdings in diesem Fall der Teppichboden. Ich hätte den Teppichboden ja sofort weggeschmissen, der war 20 Jahre alt, da kauft man halt einen neuen. Aber ältere Leute werfen so leicht nichts weg, aus Sparsamkeit oder aus Anhänglichkeit. Also haben wir den Teppich aufgerollt und Einwegtücher unter die Stellen mit den Flecken gelegt, dann haben wir den Teppich wieder drübergerollt und weitere Tücher auf die Flecken gelegt. Und diese Stellen haben wir mit DES 3000 , dem Eiweißreiniger, praktisch getränkt. Die trockenen Tücher drüber und vor allem drunter sollten das Blut mit dem Eiweißreiniger sozusagen aus dem Teppich saugen. Nach einer kurzen Einwirkzeit haben wir dann mit den Tüchern gepresst und getupft und anschließend das Ergebnis überprüft.
Es hat tadellos funktioniert– das Mittel hat jedes Mal Blut aus dem Teppich gelöst. Aber es hörte nicht auf. Es wurde zwar immer weniger Blut, aber die Tücher waren nie ganz sauber. Immer wieder rollten wir den Teppich auf, brachten wir neue Tücher aus, rollten den Teppich wieder zurück, deckten ihn ab. Und jedes Mal reichte uns die alte Dame die Tücher, die sie von unserer großen Rolle abriss. Und wann immer wir verschmutzte Tücher wegschaffen mussten, neue Tücher brauchten, kleine Werkzeuge, Wasser, dann hat sich die Mutter darum gekümmert. Sie wollte dabei sein, sie wollte nicht nur danebenstehen und zusehen. Es waren schließlich die letzten Lebenszeichen ihrer Tochter, die wir da entfernten, und wenn die schon jemand entfernen musste, dann sollten das nicht nur Fremde sein. Das war alles, was sie noch für ihr Kind tun konnte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit tupfte ich das letzte Mal auf den Teppich. Das Tuch blieb sauber, es war allenfalls etwas feucht wegen des Reinigers, aber sauber, oben und unten. Uns blieb nichts mehr zu tun. Die Möbel, das Bettzeug, die vielen Tüten mit dem belasteten Material und den Einwegtüchern haben wir dann Tüte für Tüte und Paket für Paket hinausgetragen. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss, es wäre natürlich einfacher gewesen, von dort aus alles durchs Fenster in die Transportmulde zu schmeißen. Aber in solchen Fällen kann man das nicht machen. Das schlägt dann auch keiner von uns vor. Man kann nicht vor den Augen der Angehörigen die Spuren ihres Kindes aus dem Fenster feuern wie Sperrmüll. Also haben wir alles von Hand und zu Fuß zur Mulde getragen. Und dann haben wir uns verabschiedet.
Dieser Fall hat mich lange beschäftigt, nicht nur wegen seiner Dramatik, sondern auch wegen seiner Umstände. Er hat sich praktisch in mein Hirn eingebrannt. Und als kürzlich wieder eine Notrufmeldung bei uns einging mit dem Vermerk » Starke Blutung nach Krebserkrankung«, ist bei mir ein Schalter eingerastet. Ich hatte sofort wieder diesen Fall vor Augen, die traurige, fassungslose Mutter, und ich glaube, als ich den Notarzt zum Einsatz fuhr, habe ich diesmal sämtliche Rekorde gebrochen. Das soll man nicht falsch verstehen, man will selbstverständlich nie zu spät kommen, aber in diesem Fall wollte ich es noch weniger, und wir haben es geschafft, wir sind noch rechtzeitig eingetroffen. Die Blutung war nicht so stark wie bei der erkrankten Frau, sodass der Notarzt den Patienten tatsächlich retten konnte, für dieses Mal wenigstens. Das Bittere ist, dass die Erkrankung dennoch schon so weit fortgeschritten war, dass langfristig wenig Chancen bestanden haben dürften. Ich weiß nicht, ob der Mann heute noch lebt, ich hoffe es wirklich. Aber wahrscheinlich tut er es nicht.
16. Das Fass im Kopf
Meine Kollegen und ich leben vermutlich in einer ziemlich verschrobenen Welt. Ich meine damit nicht nur die Leichenfundortreiniger, ich meine auch die Rettungsdienstler und Feuerwehrleute. Ich kann es ja nicht psychologisch beurteilen, aber ich sehe, dass wir regelmäßig verletzten Menschen begegnen, verbrannte Menschen auffinden, tote Menschen, und das in einer dementsprechenden Umgebung, in brennenden Häusern, ineinander verknäulten Autos, in verwahrlosten Wohnungen, wir sehen Menschen in einem Zustand, in dem sich kein geistig gesunder Mensch jemals befinden möchte, und das erleben wir jeden Tag, so, wie andere Menschen jeden Tag an ihrem Schreibtisch sitzen. Dazwischen warten wir in der Feuerwache und hören uns die Einsatzgeschichten von den Toten und
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