Was - Waere - Wenn
Ich
hätte schwören können, daß ich damals schon viel älter war, aber während ich
jetzt versuche, mich so genau wie möglich an den Tag zu erinnern, weiß ich es
mit einem Mal: Ich war sieben Jahre alt und auf dem Heimweg von einer
Geburtstagsfeier. Es war zwar schon Frühling, aber noch immer ziemlich kalt.
Ich trug einen olivgrünen Parka mit Kapuze, wie er Anfang der achtziger Jahre
in Mode war. Meine Hände steckten in Fäustlingen, und wenn ich mich recht
erinnere, war es diese schlaue Konstruktion, bei der die Handschuhe durch einen
langen Wollfaden miteinander verbunden sind, damit man sie nicht verlieren
konnte. War zwar unbequem, aber extrem praktisch. Außer mir mußte die niemand
mehr tragen, aber weil ich immer alles verschluderte, hatte meine Mutter mir
höchstpersönlich welche gebastelt.
Ich radelte also mit Parka und diesen bescheuerten Handschuhen nach
Hause, plötzlich habe ich das Bild wieder klar und deutlich vor Augen. Ich war
damals wahnsinnig stolz auf mein neues Kettler-Rad mit Alu-Felgen, keiner sonst
in meiner Klasse hatte so eins. Am Lenker baumelte ein Monchichi, am
Gepäckträger hatte mein Vater einen orangefarbenen Abstandhalter aus Plastik
angebracht.
»Öffnen Sie die Augen«, fordert Elisa mich auf. Ich tue, was sie
sagt. Und würde vor Schreck sofort aus dem Sessel fallen, wenn ich darin nicht
läge wie in Abrahams Schoß: Auf der großen Leinwand vor mir läuft deutlich wie
ein Kinofilm die Szene ab, die ich mir gerade vorgestellt habe. Ich, als
Siebenjährige, mit Parka, Abstandhalter und Monchichi, radele mit meinem
Fahrrad nach Hause. Dabei singe ich vor mich hin. »Der Teufel und der junge
Mann« von Paola. Schief, aber dafür laut. Ja, das bin eindeutig ich.
»Wie geht das?«
»Pst!« Sie legt einen Finger an ihre Lippen. »Konzentrieren Sie sich
weiter darauf, was damals geschehen ist, sonst bricht es ab.« Ich brauche mich
gar nicht sehr zu konzentrieren, der Film läuft einfach weiter. Als ich am
Bahnhof vorbeikomme und über das Kopfsteinpflaster des Vorplatzes holpere, muß
irgendwo ein Stein herausragen, an dem ich mit dem Vorderreifen hängenbleibe.
Wie in Zeitlupe sehe ich mich fallen, sehe, wie mein Kinn hart auf dem Boden
aufschlägt und die dünne Haut über dem Knochen aufplatzt. Überall ist Blut,
mehr, als ich in Erinnerung habe. Ein paar Passanten stürzen auf mich zu, ich
sitze neben meinem Fahrrad und heule. Der Monchichi liegt enthauptet neben mir.
»Gut.« Elisa drückt einen der vielen Knöpfe am schwarzen Kasten, in
den die Kabel vom Projektor aus laufen. Sofort verschwinden die Bilder von der
Leinwand. Ich bin mehr als sprachlos. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck
betätigt sie eine Taste mit der Aufschrift »open«, worauf mit einem leisen
Surren eine kleine Schublade herausfährt, in der eine CD liegt. Sie nimmt sie heraus und zeigt sie mir. »Fertig.« Vielleicht bin ich ja
besonders begriffsstutzig, denn ich habe das Bedürfnis nach mehr Erklärung.
»Was ist fertig?«
»Wir haben den Unfall aus Ihrem Leben entfernt, dafür ist er jetzt
hier drauf.« Sie deutet auf die CD .
»Sie meinen, der Fahrradsturz, den wir eben gesehen haben, ist jetzt
nie passiert und statt dessen als eine Art … Datei … auf der CD ?« Sie nickt.
»Genau.« Elisa nickt. Ich brauche einen kurzen Moment, um meine
Gedanken zu sortieren. »Auch wenn das etwas vereinfacht ausgedrückt ist, aber
den gesamten Vorgang zu erläutern würde den Rahmen sprengen.«
»Schon gut.« Tief Luft holen. »Wie auch immer das funktioniert mit
Ihrer Autosuggestion, nicht schlecht – aber damit wollen Sie mir doch nicht
etwa sagen, daß die Sache für mich nie passiert ist?«
»Nein, nicht nur für Sie – es ist
überhaupt nie passiert, für niemanden .«
»Auch gut. Das macht Ihre Science-Fiction-Geschichte für mich aber
nicht glaubhafter.« Ich fange an, mir die Elektroden vom Körper zu reißen, mir
reicht es für heute.
Elisa seufzt, steht auf, geht zum Schrank, nimmt einen Spiegel
heraus und reicht ihn mir wortlos.
»Was?« will ich gereizt wissen. Noch mehr Kunststückchen?
»Na, sehen Sie nach! Suchen Sie die Narbe unter Ihrem Kinn!« Ich
nehme den Spiegel und drehe ihn so, daß ich die Stelle unter meinem Kinn sehen
kann. Erst halte ich ihn ein bißchen weiter auf die linke Seite, wenn ich mich
richtig erinnere, ist die Narbe nicht direkt unterm Kinn. Nichts zu sehen, dann
war es die andere Seite. Ich drehe ihn nach rechts. Auch nichts. Ich schlucke
schwer. Das
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