Was will man mehr (German Edition)
mein lieber Schatz denn nur?», höre ich MrsLeary fragen. Kurz danach taucht sie im matten Schein einer Straßenlaterne auf.
«Guten Abend, MrsLeary», sage ich und ziehe meinen Bollerwagen vorbei, als sei nichts geschehen.
Sie mustert mich argwöhnisch, grüßt aber ebenfalls. Dann wendet sie sich ihrem noch immer wimmernden Hund zu.
Als ich die Tür zum Cottage öffne, komme ich mir wie ein Fallensteller vor, der sich monatelang durch die verschneite Wildnis gekämpft hat und nun endlich das rettende Fort erreicht. Ich bin nicht nur tiefgefroren, sondern auch völlig geschafft. Immerhin habe ich allen Gefahren erfolgreich getrotzt. Als ich das Wohnzimmer betrete, verspüre ich deshalb sogar ein gewisses Hochgefühl. Ich rechne nicht damit, dass die Anwesenden meinen Triumph mit mir teilen werden. Sie könnten aber immerhin zur Kenntnis nehmen, dass ich das Haus betreten habe und ganz nebenbei dem Tode näher bin als dem Leben.
Doch die ungeteilte Aufmerksamkeit gehört gerade Timothy. Er sitzt im Ohrensessel am Kamin, hat Mary-Ann auf dem Schoß und einen Drink in Reichweite. Elisabeth, Iris und Audrey umringen ihn. Etwas abseits steht der Kinderwagen mit Jona, der selig schläft.
Timothy genießt es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Er sieht aus, als würde er sich gleich bedächtig eine Pfeife stopfen und dann mit ernstem Gesicht von seinen gefahrvollen Reisen in die entlegensten Winkel der Welt berichten. Unterbrochen würde sein ebenso abwechslungsreicher wie packender Vortrag nur von gelegentlichen Seufzern und überraschten Ausrufen der begeisterten Zuhörerinnen. Ich betrachte das viktorianische Idyll und warte darauf, dass ich langsam zu tauen beginne.
Iris bemerkt mich. «Paul, da bist du ja endlich! Wo warst du denn bloß so lange? Und was ist mit deinen Klamotten passiert?»
«Tag zusammen», bringe ich mühsam hervor.
«Hallo, Sportsfreund», erwidert Timothy. «Was ist los? Du siehst aus, als wärst du unter ein Räumfahrzeug geraten.»
Und du siehst aus, als müsstest du noch mit Oscar Wilde ins Ballett, denke ich und erwidere: «Ich hatte Ärger.» Ich versuche zu lächeln, um die Situation herunterzuspielen. Das gelingt mir aber nicht, weil meine Gesichtszüge noch festgefroren sind. «Immerhin hab ich den letzten Truthahn für Weihnachten ergattert», setze ich nach.
«Aha. Und wo sind die Einkäufe?», fragt Audrey.
«Genau. Ich bin schon halb verhungert», fügt Elisabeth hinzu und wirkt ein wenig angeschickert.
«Ist alles auf dem Bollerwagen. Und der steht auf der Veranda», erkläre ich. «Ich kann euch auch gleich helfen, ich muss nur erst ein Bad nehmen.»
«Oh! Timothy wollte gerade baden», wirft Iris ein. «Er ist ganz verspannt nach dem Flug. Das Wasser ist schon eingelassen.»
Ich blicke zu Timothy und hoffe, dass meine blaugefrorenen Lippen und mein leichenblasses Gesicht ihn auf die Idee bringen, mir sein Bad abzutreten. Doch Timothy erhebt sich behände und ohne geringste Anzeichen einer Verspannung, zuckt bedauernd mit den Schultern und antwortet: «Tut mir leid, Sportsfreund. Aber so ist das Leben.» Er schlendert in Richtung Badezimmer und fügt hinzu: «In einer Stunde bist du dran. Versprochen.»
«Dann kannst du ja in der Zwischenzeit den Bollerwagen ausladen», sagt Iris ohne einen Funken Mitleid.
«Klar», erwidere ich matt. «Ich zieh mir nur schnell eine Hose an, mit der ich mich bücken kann.»
Als ich wenig später die Vorratskammer befülle, muss ich feststellen, dass meine Einkaufsaktion große Opfer gefordert hat. Viele Lebensmittel haben den langen Weg nicht überlebt. Salz, Zucker und Mehl sind feucht und damit unbrauchbar geworden. Lediglich die eingeschweißten Waren haben den Transport unbeschadet überstanden. Außerdem ist ein besonders bitterer Verlust zu beklagen. Mein Truthahn ist weg.
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Ich werde eine Weile verreisen
Ich habe vorgestern nicht mehr mit Audrey sprechen können. Gestern waren wir alle mit den Vorbereitungen für Weihnachten beschäftigt. Und heute möchte die Familie einen harmonischen Heiligabend verbringen. Unser Gespräch wird also noch einen weiteren Tag warten müssen.
Den Truthahn habe ich nicht wieder auftreiben können. Ich vermute, dass er vom Bollerwagen gepurzelt und in den Abwassergraben gerollt ist. Über Nacht haben Eis und Schnee die Spuren verwischt. Sein Grab dürfte also für immer unauffindbar sein.
Die Suche nach einem Ersatzbraten für Heiligabend gestaltete sich schwierig.
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