Was will man mehr (German Edition)
oder Verteidigung setzen soll, da eröffnet Audrey bereits das Feuer: «Paul, ich möchte, dass wir uns nach den Feiertagen eine Weile nicht sehen. Um Abstand zu gewinnen.»
«Ach? Noch mehr Abstand?», rutscht es mir heraus.
Audrey fixiert mich. «Willst du etwa behaupten, dass ich dich absichtlich auf Abstand halte?»
«Nein! Nicht du!», lenke ich rasch ein. «Also, nicht du allein. Es ist nur so, dass ich leider sehr wenig Zeit mit unserem Sohn verbringen kann, weil er doch ziemlich von Iris, Melissa und Elisabeth vereinnahmt wird.»
«Vereinnahmt», wiederholt Audrey spöttisch. «Das ist ein toller Begriff dafür, dass meine Familie sich um unser Kind kümmert.»
«Ich hab deine Familie nie darum gebeten», erwidere ich. So langsam bin ich dann auch in Streitlaune.
«Musstest du ja auch nicht», retourniert Audrey scharf. «Es reicht ja völlig, wenn ICH meine Familie darum bitte.»
«Schon klar», erwidere ich. «Du hast hier das absolute Sagen. Dann kommt deine Familie. Dann kommt eine ganze Weile nichts. Und dann komme ich. Vielleicht. Aber ich bin ja auch nur der Vater.»
Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist sie einem Wutausbruch nahe. Im letzten Moment beherrscht sie sich jedoch. «Weißt du was, Paul? Du hast völlig recht. Ich kann ganz allein über die Zukunft unseres Kindes entscheiden. So ist das Gesetz …»
«Die Zukunft unseres Kindes, aha. Warum sprichst du nicht gleich von der Zukunft deines Kindes? Offenbar gehört es ja dir ganz allein.»
«Spar dir deinen Zynismus! Du weißt, dass ich dir Dragijonarah …»
«Jona!», unterbreche ich barsch. «Ich nenne meinen Sohn Jona!»
«… dass ich dir Dragijonarah nicht vorenthalten will», fährt Audrey ungerührt fort.
«Dann tu es auch nicht!», herrsche ich sie an.
«Schrei mich gefälligst nicht an!», schreit Audrey.
«Ich schreie nicht!», schreie ich zurück.
«Alles okay mit euch?», will Iris wissen. Sie steht in der halbgeöffneten Tür und hat vermutlich den letzten Teil des Wortwechsels mitbekommen.
Audrey springt genervt auf. «Gar nichts ist okay. Paul fühlt sich von uns allen schlecht behandelt.»
Sie hat die Küche verlassen, bevor ich einwenden kann, dass das derart pauschal formuliert nun auch wieder nur die halbe Wahrheit ist.
Iris steht da und sieht mich an. Wahrscheinlich erwartet sie, dass ich mich für die Szene mit Audrey entschuldige. Da ich den Streit nicht vom Zaun gebrochen habe, sehe ich das aber überhaupt nicht ein.
Ich erhebe mich und schaue nach meinem Entenbraten. Sieht sehr gut aus. Fast perfekt.
«In fünf Minuten können wir anfangen», verkünde ich. «Dann ist die Brust noch rosa. Die Keulen brauchen sowieso länger. Deswegen fängt man immer mit der Brust an. Das ist der Trick bei Ente. Wusstest du das?»
Iris steht immer noch im Türrahmen. Sie hat die Arme verschränkt. Ihr Schweigen ist so eisig, dass ich wohl doch nicht darum herumkommen werde, nach den Gründen dafür zu fragen.
«Okay. Was willst du mir sagen?»
«Was vermutest du denn, was ich dir sagen will?», fragt sie schnippisch.
Ich verschränke ebenfalls die Arme. «Kann es eigentlich sein, dass du es dir in letzter Zeit angewöhnt hast, Fragen mit Gegenfragen zu beantworten?»
«Und wenn das so wäre, was würde das beweisen?»
«Da! Siehst du? Jetzt hast du es gerade wieder getan!»
Iris sieht mich mitleidig an, dann lässt sie die Arme sinken. «Paul, warum sind Männer eigentlich manchmal solche Idioten?»
«Keine Ahnung», erwidere ich. «Aber wenn wir uns wie Idioten benehmen, dann hat das auffallend häufig mit Frauen zu tun.»
Iris wirft mir einen abfälligen Blick zu. Dann dreht sie sich wortlos um und schließt die Tür. Ich befürchte, das war gerade der Beginn eines Abends, der deutlich unentspannter werden wird als ursprünglich geplant. Bevor ich mich der Entenbrust zuwende, gönne ich mir einen kleinen Scotch.
Als ich wenig später mit einem großen Tablett das Wohnzimmer betrete, interessiert sich niemand für meine Entenbruststreifen auf Couscous mit Tomaten, denn alle sind damit beschäftigt, die in Tränen aufgelöste Audrey zu beruhigen. Ihr Schluchzen mischt sich mit der kitschigen Weihnachtsmusik, die aus den kleinen Lautsprechern einer Kompaktanlage plätschert und meine Geduld schon seit Stunden auf die Probe stellt.
Ich ernte vorwurfsvolle Blicke und verständnisloses Kopfschütteln.
Da stehe ich nun mit meinen Vorspeisen und fühle mich ohnmächtiger als mancher Kleinaktionär.
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