Was will man mehr (German Edition)
ich.
Niemand reagiert. Eine Weile ist nur Jingle Bells in einer bescheuerten Swingversion zu hören. Dann räuspert sich Elisabeth.
«Paul, ich denke, wir sind uns einig, dass niemandem damit geholfen ist, wenn du dich hier nicht wohlfühlst. Früher oder später bedeutet das Streit. Und im schlimmsten Fall gehen dabei Dinge zu Bruch, die man nicht wieder kitten kann.»
Ich nicke. «Sehe ich genauso.»
«Gut», erwidert Elisabeth. «Dann solltest du Audrey aber auch unterstützen. Sie möchte mit eurem Kind allein sein, um über einige Dinge nachzudenken. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen.»
«Ich weiß», sage ich und schaue in die Runde. Die Stimmung ist merklich angespannt. Bislang hat niemand das Essen angerührt.
«Ihr müsst anfangen!», sage ich. «Sonst wird es kalt. Ich habe mir ziemlich viel Mühe damit gegeben.»
Zögerlich wenden sich alle dem Braten zu.
Ich schaue zu Audrey. «Und was unsere Probleme betrifft, da habe ich schon über eine Lösung nachgedacht.»
Ich sehe ihr an, dass sie skeptisch ist, ob meine Lösung unserer Probleme auch ihren Wünschen entsprechen wird. Aber sie kann ganz beruhigt sein. Ich hatte bei der Vorspeise genug Zeit, um eine Entscheidung zu fällen. Schon seit dem Gespräch mit Schamski habe ich das Gefühl, dass es sinnlos ist, hier noch länger die Stellung zu halten, um ein Familienleben zu fingieren, das bei genauem Hinsehen eine Ansammlung von faulen Kompromissen ist. Vielleicht ist es da besser, einen Gang runterzuschalten.
«Ich werde eine Weile verreisen», sage ich. «Und zwar sobald es sich mit meinem Job bei Melissa vereinbaren lässt.»
Ich spüre Überraschung, aber auch Erleichterung am Tisch.
«Wohin?», fragt Schamski.
«Ich hab noch ein paar Dinge in Deutschland zu erledigen. Behördengänge. Papierkram. Außerdem muss ich aus meiner Wohnung raus. Dem Vermieter passt es irgendwie nicht, dass ich keine Miete zahle. Nebenbei würde ich gerne wissen, ob mein Hund mich nach all den Monaten noch wiedererkennt.»
«Brauchst du Geld?», fragt Elisabeth, ganz Pragmatikerin.
Ich schüttele den Kopf. «Ich hab zuletzt auf dem Großmarkt gejobbt. Das kann ich bestimmt wieder tun. Die suchen dauernd Leute.»
«Du könntest dich auch im Verlag nützlich machen», schlägt Schamski vor. «Einerseits kennst du dich aus. Und andererseits sind wir für jede Hilfe dankbar. Was meinst du, Tim?»
«Klar», erwidert Timothy, scheint aber von Schamskis Vorschlag nicht sonderlich begeistert zu sein. «Allerdings haben wir ja eigentlich alles im Griff. Du bist inzwischen auch bestens mit der Materie vertraut. Und ich denke, dass wir sowieso bis Ende Januar fertig sind. Für ein paar Wochen ist der Aufwand vielleicht ein bisschen groß, finde ich.»
Schamski erwidert nichts, aber unausgesprochen steht im Raum, dass er gänzlich anderer Meinung ist. Vermutlich möchte er mir helfen, innerfamiliär Pluspunkte zu sammeln. Das ist zwar nett, aber nicht nötig. Außerdem befürchte ich, dass Timothy nichts unversucht lassen würde, mich zu diskreditieren. Am Ende wäre ich für alle Misserfolge verantwortlich, während sämtliche Heldentaten auf Timothys Seite verbucht würden. Gut möglich also, dass Schamski mir einen Bärendienst erwiesen hätte.
«Timothy hat recht», sage ich und spüre erneut, dass sich die Atmosphäre merklich entspannt. «Ihr habt eure Arbeit offensichtlich bis jetzt gut gemacht. Es spricht also nichts dagegen, dass ihr die Sache auch zu einem ordentlichen Ende bringt. Wüsste nicht, wozu ihr mich da noch braucht.»
«Tja. Wenn du das so siehst …», brummt Schamski und schiebt sich ein Stück Ente in den Mund.
Timothy macht ein sehr zufriedenes Gesicht, und auch die anderen wirken nun gelöst und sogar ein bisschen heiter.
Elisabeth erhebt ihr Glas. «Dann lasst uns jetzt anstoßen auf ein schönes und gemütliches Weihnachtsfest. Die Ente ist übrigens ganz hervorragend, Paul.» Sie lächelt, und alle nicken zustimmend.
«Bei mir war es alles andere als gemütlich», sagt Tom knapp zwei Wochen später. Wir sitzen am Tresen im Studio und plaudern. Janet raucht ihre Feierabendzigarette und legt mir zum Jahresanfang die Karten. Das erfordert offenbar eine hohe Konzentration, denn seit ein paar Minuten hat sie sich nicht mehr am Gespräch beteiligt.
«Ich habe Heiligabend meinem Vater angedeutet, dass unser Geschäft wirtschaftliche Probleme hat», fährt Tom fort.
«Mutig», werfe ich ein.
«Oder extrem schwachsinnig.
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