Was will man mehr (German Edition)
Melancholie. Ich könnte die winterliche Kulisse dafür verantwortlich machen oder meine wehmütigen Erinnerungen an vergangene Zeiten. In Wahrheit aber vermisse ich meinen Sohn. Es ist nur ein paar Stunden her, dass ich Jona zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gegeben habe. Die Vorstellung, dass ich ihn nun einige Wochen nicht oder nur sehr selten sehen werde, macht mir das Herz schwer.
«Soll ich durch die Stadt fahren oder lieber über den Ring?», will der Fahrer wissen. «Durch die Stadt ist kürzer.»
Diese Frage geht mir schon seit Jahren auf den Senkel. Es ist die Lieblingsfangfrage sadistischer Taxifahrer. In der Stadt ist nämlich Stau, und zwar praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit.
«Ist mir egal», erwidere ich.
«Sie sind der Gast. Ich fahre dahin, wo Sie mir sagen», erklärt der Fahrer hinterlistig. Ich kann sein Pokerface im Rückspiegel sehen.
«Dann fahren wir durch die Stadt», sage ich.
«Da ist aber um diese Zeit Stau», erwidert der Fahrer prompt. Er hat das letzte Wort genüsslich betont. Ich sehe seinen triumphierenden Blick im Rückspiegel. Vermutlich möchte er sich an meiner Ratlosigkeit weiden. Wähle ich die kürzere Strecke mit Staugefahr? Oder nehme ich einen größeren Umweg in Kauf?
Ich habe gerade nicht die geringste Lust auf seine Spielchen.
«Entscheiden Sie das einfach», erwidere ich locker. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, füge ich hinzu: «Hauptsache, wir erreichen unser Ziel, bevor ich in einen Zuckerschock falle.»
Aus den Augenwinkeln nehme ich sein verstörtes Gesicht im Rückspiegel wahr. Eine Weile geschieht nichts. Er scheint zu überlegen.
«Wann könnte das denn passieren?», tastet er sich hörbar unwohl vor.
Ich schaue umständlich auf meine Uhr. «So in acht bis neun Minuten?»
In dieser Zeit schafft es nämlich kein Mensch, mit dem Auto ans andere Ende der Stadt zu kommen. Jetzt hast du ein Problem, König der Taxifahrer.
Wieder Schweigen. Erneut überlegt er. «Soll ich denn dann nicht lieber an einem Krankenhaus vorbeifahren?»
War mir klar, dass dieser Vorschlag kommen würde. Ich bin vorbereitet. «Das bringt nichts», erwidere ich mit ernstem Gesicht. «Ich brauche spezielles Insulin. Das gibt es nur da, wo sie mich jetzt hinfahren.» Ich massiere mir mit den Fingerspitzen die Stirn, als würde das Gespräch mich über Gebühr anstrengen. «Entschuldigung, was sagte ich gerade?»
Er wirkt nun panisch und scheint fieberhaft zu überlegen, was wohl die beste Lösung wäre. Ist doch schön, finde ich. So ähnlich geht es nämlich seinen weniger gut betuchten Fahrgästen, wenn sie sich für die richtige Strecke entscheiden müssen.
Abrupt reißt der Mann das Steuer herum und dirigiert den Wagen in eine winzige Gasse. «Wir fahren eine ganz andere Strecke», verkündet der Fahrer, während er aufs Gaspedal tritt.
Ich bin erstaunt, dass man doch binnen acht Minuten durch die Stadt kommen kann. Vielleicht lasse ich mir meine Lügengeschichte patentieren.
«Das sieht aber hier nicht aus wie eine Arztpraxis», motzt der Fahrer, als wir bei Schamski anhalten.
«Ich bin ja auch kein Diabetiker», erwidere ich freundlich und lasse die Wagentür ins Schloss fallen.
«Nanu? Wo ist Fred?», fragt Schamski, als ich sein Apartment betrete.
«Mein Hund ist sauer auf mich, weil ich ihn zu lange allein gelassen habe», erwidere ich. «Er wollte lieber bei Kostas bleiben.»
«Interessant. Wie geht es ihm?»
«Gut. Hat ein bisschen zugenommen.»
«Kommt wahrscheinlich davon, dass er den ganzen Tag in diesem Laden vor der Heizung liegt», vermutet Schamski.
«Nicht Fred. Kostas hat zugenommen», sage ich. «Seit seine Frau wieder schwanger ist, kocht sie griechische Eintöpfe, die er aus Gründen der Solidarität mitessen muss.»
«Apropos. Wollen wir was essen gehen?», fragt Schamski. «Wie du siehst, lebe ich hier sehr bescheiden. Ich bin nicht mal sicher, ob wir beide zusammen in die Küche passen.»
Schamskis Domizil besteht aus einem winzigen Zimmer, das man durch einen winzigen Flur erreicht, von dem ein Küchelchen und ein Bädlein abgehen. Ich werfe einen Blick ins Küchenkämmerchen und teile Schamskis Befürchtungen. «Bist du sicher, dass das hier eine Wohnung ist und nicht nur das Mauseloch in einer größeren Wohnung?»
«Aber wo wäre dann die Maus?», fragt Schamski ungerührt.
«Vielleicht ist sie gerade in psychiatrischer Behandlung. Wegen Klaustrophobie.»
«Du brauchst nicht nur was zu essen», stellt Schamski fest.
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