Was will man mehr (German Edition)
wahnsinnig nerviger Gesundheitsapostel. Wenn er nun auf Tour geht, dann nimmt er einen Rückfall in Kauf, oder er hält sich schlicht für immun. Entweder hat er also genug vom Leben, oder aber er befürchtet, dass er vom Leben noch nicht genug bekommen hat. Die Variante mit der Midlife-Crisis wäre also in dieser Hinsicht fast wünschenswert. Aber das muss ich Lisa ja nicht auf die Nase binden.
«Ein paar Monate sind schnell vorbei. Ich meine, vielleicht ist das ja seine ganz persönliche Abschiedstournee. Vielleicht will er sich beweisen, dass ihn dieses Wanderleben definitiv nicht mehr interessiert. Und wer weiß? Am Ende könnte eine vorübergehende Trennung sogar gut für euch beide sein.»
Eigentlich käme ich nie auf die Idee, Tommi zu verteidigen. Dafür ist er mir zu sehr mit seiner harten Lebensmoral und seinen weichen Dinkelfrikadellen auf die Nerven gegangen. Aber jetzt gerade tut Lisa mir wahnsinnig leid. Sie wirkt so verloren, wie sie in diesem großen Haus auf gepackten Koffern sitzt und nicht ganz zu verstehen scheint, was passiert ist.
«Er hat fast genau dasselbe gesagt», erwidert sie und nimmt einen Schluck Tee. «Es scheint euch Männern ein dringendes Bedürfnis zu sein, den Dingen immer auf den Grund zu gehen. Warum eigentlich?»
Ich zucke mit den Schultern. «Keine Ahnung. Aber ist das so falsch?»
Lisa zieht die Stirn kraus. «Ich weiß nicht, ob ich es falsch nennen würde. Aber vielleicht ist es … ungesund. Im Meer leben ja auch nicht alle Tiere am Boden. Das schaffen nur ein paar Würmer oder Seegurken. Flundern, zum Beispiel, leben an der Oberfläche oder im flachen Gewässer.»
«Aha. Und ist Tommi jetzt eine abenteuerlustige Flunder oder eine unglückliche Seegurke?», frage ich. Ihr Vergleich leuchtet mir nur bedingt ein.
«Ich will eigentlich nur sagen, dass man im Leben nicht alle Geheimnisse lüften sollte», erwidert Lisa. «Eine einzige Antwort kann manchmal mehr Schaden anrichten als ein Dutzend offener Fragen.»
«Verstehe. Du hast Angst davor, dass er nicht wieder zu dir zurückkehren will», vermute ich. «Deshalb hast du ihm ein Ultimatum gestellt. Er wiederum will sich nicht von dir unter Druck setzen lassen. Also hast du die Konsequenzen gezogen und dich von ihm getrennt.»
Lisa lacht müde. «Nein. Das wäre dann doch ein bisschen sehr einfach. Ich war vor zwei Wochen in Montreal, um mit Tommi zu reden. Und da habe ich festgestellt, dass es sinnlos ist, auf ihn zu warten. Die Antworten, die er sucht, die hat er längst bekommen.»
«Aha. Und was macht dich da so sicher?», frage ich.
«Eine leere Schnapsflasche unterm Bett. Kokainreste auf dem Toilettendeckel. Der Geruch eines fremden Parfums an seinen Klamotten.»
«Das könnten Zufälle sein. Die Flasche und das Koks sind nicht von ihm. Ein weiblicher Fan hat ihn umarmt. Vielleicht ist alles ganz harmlos.»
Lisa lächelt matt. «Ich hab in seinen Augen gelesen, dass er genau dieses Leben führen will. Ich glaube sogar, er würde lieber in einem schrottigen Tourbus den Löffel abgeben, als an meiner Seite alt zu werden.»
«Das klingt sehr hart. Wahrscheinlich tust du ihm damit unrecht.»
Sie nickt. «Schon möglich. Das ändert aber nichts daran, dass Tommi offenbar nie glücklich mit mir war. Und das ist auch hart.»
Ich mochte Tommi noch nie besonders. Da er Lisa nun mit Karacho das Herz gebrochen hat, mag ich ihn noch weniger. Ich respektiere aber, dass er den Mut aufgebracht hat, sich für ein Leben als drogensüchtiger, drittklassiger Rockmusiker zu entscheiden. Er hätte das nur schon vor vielen Jahren machen müssen. Dann wären Lisa und nebenbei auch mir viele Rohkostsalate und Weltverbesserungsvorschläge erspart geblieben.
«Was hast du jetzt vor?», frage ich.
«Ich bin von Montreal nach Detroit geflogen und habe Sophie besucht. Ich werde eine Weile bei ihr leben, wenn ich hier fertig bin.»
«Wie geht es ihr?», will ich wissen.
«Gut. Sie lässt dich grüßen. Wenn du in Detroit bist, sollst du unbedingt vorbeikommen. Sie hat sich sehr verändert. Sieht jetzt nicht mehr aus wie ein Mädchen, sondern wie eine junge Frau. Und sie hat einen Typen kennengelernt. Robin. Netter Kerl.»
«Sie ist mit einem Mann zusammen?», wundere ich mich.
Lisa nickt. «Dass sie auf Frauen stand, war wohl nur eine Phase. Im Moment ist sie jedenfalls heterosexuell.»
Ich muss lächeln. Sophie, die zwar nicht mein leibliches Kind ist, mir aber trotzdem genauso nahesteht, hat mich vor einer ganzen Weile
Weitere Kostenlose Bücher