Was will man mehr (German Edition)
sowieso niemand begegnen wird. Ich habe sie trotzdem gekauft, denn der Einbruch in den Verlag könnte die erste und letzte Möglichkeit sein, sich wie ein echter Krimineller zu fühlen. Und diese Gelegenheit wollte ich nicht verpassen.
Die Trainingsanzüge habe ich gerade in Bronkos Loft auf dem Boden ausgebreitet. An den Kopfenden liegen die Skimasken, an den Fußenden stehen die Rucksäcke. Sobald Günther von seiner Shoppingtour im Elektronikmarkt zurückgekehrt ist, werden wir die Rucksäcke packen, und dann steht unserer Mission nichts mehr im Wege.
Ich überlege gerade, ob ich mir einen Espresso gönnen soll, während ich auf Günther warte, als es klingelt. Der Doorman fragt, ob ich eine junge Dame empfangen möchte. Sie heißt Audrey. Ich bin baff. Audrey ist hier?
«Schicken Sie sie bitte hoch», sage ich und beeile mich dann, Skimasken, Trainingsanzüge und Rucksäcke in meinem Schlafzimmer zu verstauen.
Audrey soll ja nicht denken, dass wir ein krummes Ding vorhaben.
Wieder klingelt es, diesmal an der Tür.
Ich laufe hin, öffne und sage mit einem strahlenden Lächeln: «Hey! …» Eigentlich will ich noch so Sätze anfügen wie: Schön, dich zu sehen. Gut schaust du aus. Oder: Das ist ja eine tolle Überraschung! Aber Audreys Blick lässt mich verstummen. Sie sieht aus, als müsste sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Dann sehe ich, dass sie nicht nur den Kinderwagen und unseren Sohn bei sich hat, sondern auch eine Menge Gepäck. Ratlos schaue ich sie an.
«Darf ich reinkommen, Paul?», bringt sie mühsam hervor.
«Klar», sage ich. «Warte, ich helf dir mit dem ganzen Zeug.»
Wenig später sitzen wir am Küchentisch. Ich habe Kaffee gemacht, meinen schlafenden Sohn mit einem sanften Kuss auf die Stirn begrüßt und warte nun darauf, dass Audrey erzählt, warum sie hier ist.
Sie braucht eine Weile, bis sie sich gesammelt hat.
«Also», beginnt sie, sieht mir in die Augen und versucht die Tränen zurückzuhalten. Es gelingt ihr nicht.
Ich setze mich neben sie, lege einen Arm um ihre Schulter und frage mich mit leichter Besorgnis, was wohl in London vorgefallen sein mag, das sie derart aus der Bahn geworfen hat.
Sie lässt ihren Kopf an meine Schulter sinken und wartet, bis der Weinkrampf nachgelassen hat. Dann setzt sie sich wieder auf, reißt sich innerlich zusammen, schnäuzt sich und sieht mir erneut in die Augen.
«Also», beginnt sie ein weiteres Mal, holt tief Luft und sammelt sich. Dann bricht sie wieder in Tränen aus.
«Ist jemandem was passiert?», frage ich unbehaglich. Ich merke, dass ich nun ebenfalls verkrampfe. Das liegt an Audreys nicht abreißendem Tränenfluss. Frauen weinen manchmal so haltlos, dass Männer nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Wir hätten auch gerne einen Mechanismus, um die Seele durchzuspülen, aber die meisten von uns haben nie gelernt, Rotz und Wasser zu heulen. Deswegen sind wir ebenso ratlos wie fasziniert, wenn Frauen das machen.
Audrey sieht mich an und ist offenbar unfähig zu antworten. Die Tränen fließen, ihr Gesicht ist inzwischen leicht gerötet.
«Ist jemand gestorben?», bricht es aus mir heraus. Langsam, aber sicher befürchte ich das Schlimmste.
Abrupt versiegt Audreys Tränenstrom.
«Nein», antwortet sie bass erstaunt. «Wie kommst du denn darauf?»
Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach, meine Theorie der weiblichen Tränen zu verwerfen. Dann sage ich: «Egal. Aber was ist denn nun passiert?»
Sie schnäuzt sich umständlich, zieht die Tasse zu sich heran und seufzt.
«Ich habe einen Job», sagt sie dann.
«Aha», antworte ich und kann auf Anhieb nichts Tragisches an dieser Nachricht entdecken.
«Fünf Monate Australien. Könnten auch sechs oder sieben werden.»
Ich überlege einen Moment, werfe dann einen Blick zu Jona und ahne nun, was Audreys Besuch zu bedeuten hat. Ich soll meinen Sohn für ein halbes Jahr zu mir nehmen. Deshalb die vielen Koffer. Es handelt sich also nicht um Audreys, sondern um Jonas Gepäck.
Sie sieht mir offenbar an, dass ich den Grund ihres Kommens erraten habe, denn sie nickt sachte. «Könntest du, würdest du … ihn nehmen?»
Ich weiß nicht, ob ich in wilde Panik ausbrechen oder einen Freudentanz veranstalten soll. Klar möchte ich meinen Sohn zu mir nehmen. Ich wünsche mir schließlich schon seit Monaten, mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Andererseits habe ich großen Respekt davor, ein mittelloser, alleinerziehender Vater zu sein. Und nebenbei muss ich schon
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