Was will man mehr (German Edition)
sehr bald einen Einbruch begehen und einen Freund vor dem Knast bewahren. Auch dabei könnte ein Säugling hinderlich werden. Trotzdem …
«Ich hab mir das Gehirn zermartert, was ich tun soll», erklärt Audrey, bevor ich ihre Frage beantworten kann. «Aber wahrscheinlich werde ich beruflich nie wieder so eine Chance bekommen wie diese. Die größte Agentur der Welt hat mich angefragt. Die Bilder werden später in allen wichtigen Museen gezeigt, und ich arbeite mit den besten Fotografen, die es gibt.» Sie hält inne und sieht nun unendlich traurig aus. «Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich diese Chance vertun würde.»
«Du möchtest, dass ich ihn jetzt sofort nehme?», vermute ich.
Sie nickt. «Ich wollte uns beiden keine lange Bedenkzeit geben. Das Taxi wartet. Mein Flug geht in drei Stunden. Wenn du jetzt ablehnst, dann werde ich den Job canceln und nach London zurückkehren. Das hier ist also gewissermaßen ein … Gottesurteil.» Sie versucht ein Lächeln.
«Warum nicht Elisabeth oder Melissa?», frage ich. «Oder auch Iris.»
«Verschiedene Gründe», antwortet Audrey. «Letztlich sind aber alle der Ansicht, dass er bei seinem Vater sein sollte, wenn schon seine Mutter nicht da ist.» Offenbar ist es Elisabeths traditionellem Familienverständnis zu verdanken, dass ich diesmal ausnahmsweise in der Hierarchie nicht ganz unten stehe. Audrey schluchzt, reißt sich aber sofort wieder zusammen. «Melissa würde dir helfen. Zumindest in der ersten Zeit. Sie kommt morgen oder übermorgen.»
Wir sehen uns an. Audrey erwartet meine Entscheidung.
«Eins noch», sagt sie und nippt an ihrem Kaffee. «Ich nehme es dir nicht übel, wenn du ablehnst. Ich möchte nicht, dass du denkst, ich würde …»
«Ich bin einverstanden», unterbreche ich. Da ich schon zu Beginn des Gesprächs einverstanden war, erübrigt es sich, dass Audrey noch länger Überzeugungsarbeit leistet. Sie verpasst sonst noch ihren Flieger.
Wieder fließen die Tränen, sie springt auf und drückt mir einen feuchten Kuss auf den Mund. «Ich weiß, dass er bei dir gut aufgehoben ist.»
Sie schnappt sich ihre Umhängetasche vom Gepäckstapel, wirft dabei einen Blick zum Kinderwagen und reißt sich von dem Anblick los.
«Ich verabschiede mich schon seit zwei Tagen von ihm», sagt sie, während ihre Tränen aufs Parkett tropfen. «Ich werde jetzt nicht noch einmal nach ihm sehen, sonst schaffe ich das alles hier vielleicht nicht.»
Entschlossen geht sie zur Tür, wendet sich aber noch einmal um.
«Er wird es ganz sicher gut bei mir haben», sage ich. «Mach dir also keine Sorgen. Und viel Glück für den Job.»
«Danke», haucht sie unter Tränen. Dann fällt die Tür ins Schloss.
Ich könnte schwören: Es dauert exakt jene zwei Minuten, die Audrey benötigt, um mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss zu gelangen, das Haus zu verlassen und im Taxi davonzubrausen, bis Jona zu schreien anfängt.
Weder eine neue Windel noch ein Fläschchen können ihn beruhigen. Selbst eine Loftrundfahrt mit dem Kinderwagen hilft nichts.
Vielleicht hat er Schmerzen, mutmaße ich und beginne mit einer Hand in den diversen Taschen und Koffern nach einem Fieberthermometer zu wühlen, während ich mit der anderen meinen brüllenden Sohn halte.
«Was ist los?», fragt Günther und stellt seine Einkaufstaschen ab.
Ich habe ihn nicht kommen gehört, weil Jona mir direkt ins Ohr brüllt.
«Gut, dass du da bist», sage ich.
«Wem gehört denn das Baby?», will Günther verblüfft wissen.
«Das ist mein Sohn», erwidere ich. «Halt mal!» Mit diesen Worten drücke ich ihm Jona an die Brust, um endlich beide Hände für die Suche nach dem Fieberthermometer frei zu haben. Erst mit einer Verzögerung von mehreren Sekunden stelle ich fest, dass Jona plötzlich verstummt ist.
Erstaunt erhebe ich mich und mustere Günther, der das zufrieden dreinblickende Baby auf dem Arm hat.
«Was war das?», frage ich.
Günther zuckt mit den Schultern. «Keine Ahnung.»
Ich strecke die Arme aus, Günther reicht mir Jona, und im nächsten Moment schreit dieser wieder wie am Spieß.
Rasch gebe ich ihn Günther zurück, und Jona verstummt.
Jetzt wundert sich auch Günther.
«Nochmal», sage ich fasziniert, nehme mein Baby und gebe den im nächsten Moment brüllenden Säugling wieder an Günther zurück, was Jona abrupt verstummen lässt.
«Du bist ein Babyflüsterer», stelle ich perplex fest.
«Kann schon sein», erwidert Günther, nicht ohne Stolz. Er lächelt zufrieden,
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