Was wir erben (German Edition)
Frauenheilkunde im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Auf der anderen Seite des Donaukanals.
Mit Hofffmann durch N. zu laufen, glich einem Apell. Er grüßte jeden, der kein Tourist war, und selbst die Touristen, die sich länger als einen Tag in N. aufhielten (»DieserDom mit seinen Figuren hält uns am Leben, sogar jung, ob wir wollen oder nicht.«) grüßten ihn, weil sie ihn entweder als selbstlosen Taxifahrer kennengelernt hatten, der ihnen abriet, sich mit dem Wagen fahren zu lassen, oder, weil sie einen unschätzbaren Tipp von ihm bekommen hatten, was es für sie in N., jenseits der ausgetretenen Pfade, noch zu entdecken gebe. Es schien, als wäre Hofffmann der Mittelpunkt dieses Universums (»Man muss sich die Welt selbst einrichten.«), und ich verbrachte die Tage an seiner Seite und staunte. Es begab sich tatsächlich, wie die Kellnerin angekündigt hatte. Hofffmann verschwand manchmal, ohne Vorwarnung, überraschend, für eine halbe Stunde, für zwei Stunden, manchmal für einen ganzen Tag und hinterließ keine Nachricht, wo er zu finden sei. Als ich ihn am siebten Tag meiner Anwesenheit während eines Spaziergangs durch die umliegenden Weinberge darauf ansprach, sagte er: Ich habe einen Termin für dich. Marianne Lüders. Aber vorher muss ich dir etwas zeigen. Wir stiegen einen Hang hinab, gingen durch ein kleines, kühles Wäldchen und standen plötzlich vor einer weiten Lichtung. Auf der anderen Seite der Wiese konnte man eine zugewachsene Straße erkennen. Ein paar Schutthaufen zwischen dem hochgeschossenen Gras. Hofffmann nahm mich an der Hand. Er schaute ganz ernst. Siehst du diese Mauern, fragte er mich. Welche Mauern? Da, auf der Wiese. Das Viereck. Ja, tatsächlich, staunte ich, das sieht aus wie ein Schwimmbad. Das ist ein Schwimmbad, rief Hofffmann. Hier war ein Freibad. Hier vergnügtesich die Jugend von N. Hier war Sommer. Jedes Jahr. Hofffmann zog mich durch das hochgewachsene Gras, er hüpfte über morsche Bretter, er umkreiste kleine Schutthaufen. Hier, rief er, hier standen die Umkleidekabinen. Und das ist das Fundament des Sprungturms. Das Gras war so hoch, dass man die Rückstände nur aus der Nähe sah, wenn man fast schon in sie hineingelaufen war. Hofffmann zeichnete mit mir an der Hand das ganze Bad nach. Er schritt die Architektur ab. Er ließ das aufgelassene Freibad von N. neu erstehen. Und jetzt, sagte er, jetzt legen wir uns auf die Wiese und genießen den Tag im Freibad. Wir ließen uns fallen und schlossen die Augen. Ich hörte Freibadlärm. Wasserklatschen. Kindergeschrei. Der Geruch von Chlor und Sonnencreme in der Nase. Ich spürte Hofffmanns Hand in meiner Hand. Kribbeln im Bauch. Ich öffnete die Augen wieder und sah das belebte Freibad. Das blaue Becken. Den Sprungturm. Die Kabinen. Den Kiosk. Ich drehte mich zu Hofffmann. Er lächelte mit geschlossenen Augen. Ich riss zwei lange, kräftige Grashalme aus und fing an, Hofffmann an den Armen damit zu pieksen. Er ließ sich erst nichts anmerken, stürzte sich dann unvermittelt auf mich und kitzelte mich, bis ich atemlos um Schonung bat. Er ließ von mir ab und strahlte. Was wäre, wenn wir uns heute Nacht hier im Schwimmbad einschließen lassen, fragte er mich mit seiner jugendlichsten Stimme. Ich ließ mich auf sein Spiel ein, und wir waren plötzlich sechzehn und verliebt und aufgeregt und ungeduldig und konnten es kaum abwarten, bis es dunkelwurde. Wir erzählten uns von unseren Eltern, schimpften über die Lehrer und malten uns eine neue, bunte Welt aus. Hofffmann lief zum Kiosk und besorgte uns Brote mit Käse und Becher voll Brause. Die Sonne brannte auf der Haut. Ich sprang ins Wasser. Zog ein paar Bahnen. Lief wieder hin zu Hofffmann und schüttelte meine nassen Haare über ihm aus. Er stellte sich tot. Ich erzählte Hofffmann von Holger. Und plötzlich verschwand die Sonne hinter einer großen, dunklen Wolke. (»Die Natur ist die Bühne für unser falsches Spiel. Zufällig und äußerst präzise.«) Mir wurde kalt. Meine Worte waren zäh wie getrocknete Knete. Holger war plötzlich eine Erinnerung. Und ich war wieder aufgetaucht aus unserem Spiel. Ein Gewitter zieht auf, sagte Hofffmann. (»Die Realität setzt sich selbst in Szene. Auch die Verachtung.«) So vergingen die Tage mit Hofffmann. Wir surften zwischen den Zeiten hin und her. Wir erfanden unglaubliche Geschichten, drehten abenteuerliche Filme und fotografierten Dinge, die unsichtbar waren. Wir lachten. Wir stritten. Wir waren dabei, miteinander zu
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