Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
davon?» Und die grausame Antwort wird sein: «Nichts.» Und er wird erkennen,
dass er sich zum Deppen gemacht hat. Und er wird sich dafür schämen. Und er wird sich schwören: Nie, nie wieder … So, ganz genau so, ist das auch mit dem Idealismus. Tut mir leid, liebe Leser.
Jedenfalls wollten wir uns mit dem realistisch drohenden Niedergang des Dorfladens nicht abfinden. Mit Geduld, Spucke und
viel Nachsicht, so nahmen wir uns vor, würden wir den Laden retten. Frau Widdel würde durch unsere konsequent angewandten
idealistischen Maßnahmen das schöne Erfolgserlebnis haben, dass Erfüllung von Kundenbedürfnissen unweigerlich zur Erfüllung
ihrer Kasse führt.
Rückblickend rührt mich unsere Naivität.
Wir hatten einfach nicht bedacht, dass Frau Widdel die zu erfüllende Kasse, von der sie Tag für Tag, Stunde um Stunde böse
angefunkelt wird, dass sie diese Kasse in Wahrheit hasst. Dass sie diese Bakelitkröte aushungern will. So lange, bis sie ihr
die endlich vollends leere Geldlade zum unwiderruflich letzten Mal in ihren fettglänzenden, schmutzig grünen Bauch schieben
würde. Anders kann ich mir die Beharrlichkeit, mit der Frau Widdel sich unserem edlen Ladenrettungsprogramm widersetzte, einfach
nicht erklären.
Aber der Reihe nach. Unser Langzeitprojekt «Ladenrettung» begann – so ist es immer, bevor man sich auf einen Schicksalskampf
einlässt – mit Hoffnung.
|151| Prinzip Hoffnung
Die Hoffnung keimte an einem frühlingshaften Samstag Ende April. Frühling ist bekanntlich die Jahreszeit der Hoffnung. Darum
wird ja auch so gerne im Frühling geheiratet, obwohl von diesen Ehen statistisch genauso viele zum Scheitern verurteilt sind
wie von den im November geschlossenen. Aber wir reden ja hier nicht über Wahrscheinlichkeitsrechnung, wir reden vom Prinzip
Hoffnung.
Also: Wir hatten unseren ersten Winter in Amerika gut überstanden. Er war relativ mild ausgefallen und hatte uns freundlicherweise
mit für diese Gegend untypisch viel Schnee beglückt, sodass wir den Klimawechsel von den Schweizer Voralpen ins Tiefland Brandenburgs
gar nicht so sehr als Wechsel empfunden haben. Jetzt waren die Tage wieder merklich länger geworden, heute war es sogar schon
angenehm warm, und die Blütenpracht unseres Kirschbaums stellte jede Gartenschau in den Schatten. Begleitet von Vogelgezwitscher,
Sonne im Gesicht, wanderte ich, nein, schwebte ich Richtung Laden, hüpfte die Terrasse hoch und landete, ohne Schaden anzurichten,
in Frau Widdels Reich. Täuschte ich mich, |152| oder klang ihr «Guten Taaag» heute eine Nuance frischer als sonst, leuchtete ihr Haar eine oder zwei Nuancen blonder?
«Das wird ein schönes Wochenende werden, nicht?», warf ich ihr übermütig hin, während sie meine Schrippen abzählte.
«Kommt drauf an, was Sie vorhaben», erwiderte Frau Widdel. «Acht Stück, wie immer. So!»
«Wissen Sie, was ich vorhabe, Frau Widdel? Nichts hab ich vor, das ist ja das Tolle, ein ganzes Wochenende voll mit Nichts.»
«Jedem das Seine. Anschreiben oder bar?»
Dass sie aber auch immer dieses «Anschreiben oder bar» so durch den Laden blöken musste. Schwester Alma, die gerade ihre Wochenendration H-Milch zur Kasse balancierte, guckte schon. Die musste doch denken, wir wären pleite und hätten es nötig, anschreiben zu lassen!
Wegen ein paar Schrippen, ich bitte Sie! Dabei war es gerade umgekehrt. Wir zahlten immer mal wieder einen Betrag im
Voraus
, damit wir jederzeit schnell etwas holen konnten, ohne immer daran denken zu müssen, Geld einzustecken. Deshalb hätte Frau
Widdel doch fragen können: «Darf ich es dann von Ihrem Konto abbuchen, Herr Moor?» Das könnte man doch erwarten, meine ich,
oder?
«Ja, buchen Sie es von unserem Guthaben ab, wie immer», antwortete ich, «Guthaben» extra prononciert, angewandte Sprechtechnik,
gelernt ist gelernt. Und ich legte nach, halb in Richtung Schwester Alma:
«Es müsste ja noch was drauf sein …?»
«Da müsste ich nachschauen im Büchlein», hatte ich als Antwort erwartet, so was in der Richtung. Aber Frau Widdel überraschte
mich. «Ja, klar, machen Sie sich keine Sorgen, da ist mehr als genug drauf.» Und jetzt geschah ein Wunder, sie verzog den
Mund ansatzweise zu einem Lächeln und sagte: «Wir sind doch noch immer klargekommen,
wir
zwei, nicht?» Seitenblick zu Schwester Alma |153| und dann mir voll ins Gesicht: «Genießen Sie Ihr Frühstück, Herr Moor!»
Hä, war das Frau Widdel?
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