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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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krachte und es unter sich begrub, oder noch schlimmer, Sonjas frisch bereiteten Gemüsegarten plattmachte   … Ich hatte zwar schon Bäume gefällt, aber so ein Riesending?
    Also, der Wind kommt von   … nirgends. Windstille, sehr gut. Mit klopfendem Herzen setzte ich den ersten Schnitt. Aus der Richtung, in der die Tanne
     fallen sollte, leicht schräg nach unten bis knapp zur Mitte des Stammes. Das Sägeblatt fraß sich durch das Holz wie durch
     Butter. Geht ja leichter, als ich dachte. Weicheibaum! Ich setzte etwas unterhalb des ersten Schnitts noch einmal an, diesmal
     sägte ich waagerecht. Sauber brach der Keil aus dem Stamm. Nun der Final-Cut: Von der gegenüberliegenden Seite aus möglichst
     exakt auf die Spitze der herausgesägten Keillücke zu. Der Motor jaulte auf, Späne flogen.
    Langsam jetzt, vorsichtig! Ein Knirschen, ein Knacken, die Tanne begann ganz langsam zu kippen, dann immer schneller, bis
     sie genau in vorgesehener Richtung zu Boden krachte. Und es ward Licht. Ich konnte in die Weite der Wiesen hinter dem Garten
     sehen. Gewonnen! Ich klopfte mir selber auf die Schulter und genoss das warme Gefühl tiefster Zufriedenheit. Das Leben konnte
     herrlich sein!
    Von meinem Sieg beflügelt, ratzte ich in Windeseile die Äste vom Stamm und zersägte denselbigen zu kurzen, zylinderförmigen
     Stücken. Spalten werde ich später, das wird wunderbares Feuerholz. |143| Wie ein Berserker, keuchend und schwitzend, schleppte ich die zerstückelte Tannenleiche hinter den Stall. Dort stapelte ich
     die Äste fein säuberlich auf einen Haufen, die Rundhözer an die Wand. «Saubere Sache», jubelte der kleine Schweizer.
    Jetzt wandte ich mich dem Tatort zu. Versorgte die Kettensäge, rechte Späne, Tannenzapfen und Nadeln auf einen Haufen, den
     ich per Schubkarre zu den anderen Tannenresten verfrachtete. Danach erst mal den Schweiß runterduschen, die harzverklebte
     Hose in die Wäsche, frisches Hemd. Der Tannenmörder beseitigt die Spuren seiner ruchlosen Tat. Und nun?
    Nun begann der schwierigste Teil. Die mentale Vorbereitung auf Sonjas entsetzte Reaktion. Alibi hatte ich keins. «Nein, Frau
     Kommissar, ich bin mit den Hunden spazieren gewesen, und als ich zurückkam, war die Tanne weg. Ich weiß auch nicht, wo sie
     hingegangen ist. Jedenfalls lebte sie noch, als ich sie zuletzt gesehen habe.» Ausrede hatte ich auch keine. «Ich schwöre,
     Frau Kommissar, ich wollte das nicht. Mir ist die laufende Kettensäge ausgerutscht und hat sich in den Baum gefräst. Ich wollte
     es noch verhindern, aber alles ging so schnell   …»
    Die Schuld auf jemand anderen abwälzen funktionierte wohl auch eher nicht. «Plötzlich stand ein Maskierter auf dem Hof und
     bedrohte mich mit einer Kettensäge. ‹Freie Sicht auf Brandenburg›, schrie er und ‹Rache für den Mischwald›, und dann massakrierte
     er die schöne Tanne. Ich stehe noch immer unter Schock, Frau Kommissar, bitte gehen Sie jetzt, ich muss das alleine verarbeiten.»
    Nein, es blieb mir keine Wahl: Ich musste zu dem stehen, was ich getan hatte. Ich spielte Dutzende von Dialogvarianten durch:
Sonja bricht weinend zusammen, Dieter tröstet sie mit superguten, vernünftigen Argumenten. Sonja sieht ein, dass er recht
     hat, und alles wird gut.
Sonja ist tief enttäuscht und spricht von Vertrauensbruch, |144| Dieter sagt, er hätte ja nie versprochen, die Tanne nicht zu fällen. Sonja sieht ein, dass er recht hat, und alles wird gut.
Sonja ist wütend, schimpft und tobt, Dieter schreit zurück und verzieht sich beleidigt nach Berlin. Sonja sieht ein, dass
     er recht hat, und alles wird gut.
Sonja sagt gar nichts, wird nur bleich, steigt ins Auto und verlässt Dieter. Monate später erhält er eine Postkarte, auf der
     ihm Sonja mitteilt, dass sie in der Karibik eine Baumschule für Weißtannen gegründet hat. Es ginge ihr gut, jetzt. Sie wolle
     ihn nie wieder sehen, denn er sei im Unrecht.
    Nach einer Stunde sah ich ein: Auf das, was nach Sonjas Rückkehr geschehen würde, gab es keine mentale Vorbereitung. Also
     trank ich Kaffee. Taperte ziellos auf dem Hof herum. Streichelte die Hunde. Trank noch einen Kaffee. Reinigte den Eseln und
     dem Pferd die Hufe. Schaute nach, ob Post gekommen war. Es war keine Post gekommen.
    Ich saß gerade auf der Toilette, als ich hörte, wie der Jeep auf den Hof gefahren wurde. Schlechtes Timing. Gleich würde die
     Badezimmertür aufgeschlagen, und Sonja, der Racheengel, würde darin erscheinen und ich mit

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