Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
krachte und es unter sich begrub, oder noch schlimmer, Sonjas frisch bereiteten Gemüsegarten plattmachte … Ich hatte zwar schon Bäume gefällt, aber so ein Riesending?
Also, der Wind kommt von … nirgends. Windstille, sehr gut. Mit klopfendem Herzen setzte ich den ersten Schnitt. Aus der Richtung, in der die Tanne
fallen sollte, leicht schräg nach unten bis knapp zur Mitte des Stammes. Das Sägeblatt fraß sich durch das Holz wie durch
Butter. Geht ja leichter, als ich dachte. Weicheibaum! Ich setzte etwas unterhalb des ersten Schnitts noch einmal an, diesmal
sägte ich waagerecht. Sauber brach der Keil aus dem Stamm. Nun der Final-Cut: Von der gegenüberliegenden Seite aus möglichst
exakt auf die Spitze der herausgesägten Keillücke zu. Der Motor jaulte auf, Späne flogen.
Langsam jetzt, vorsichtig! Ein Knirschen, ein Knacken, die Tanne begann ganz langsam zu kippen, dann immer schneller, bis
sie genau in vorgesehener Richtung zu Boden krachte. Und es ward Licht. Ich konnte in die Weite der Wiesen hinter dem Garten
sehen. Gewonnen! Ich klopfte mir selber auf die Schulter und genoss das warme Gefühl tiefster Zufriedenheit. Das Leben konnte
herrlich sein!
Von meinem Sieg beflügelt, ratzte ich in Windeseile die Äste vom Stamm und zersägte denselbigen zu kurzen, zylinderförmigen
Stücken. Spalten werde ich später, das wird wunderbares Feuerholz. |143| Wie ein Berserker, keuchend und schwitzend, schleppte ich die zerstückelte Tannenleiche hinter den Stall. Dort stapelte ich
die Äste fein säuberlich auf einen Haufen, die Rundhözer an die Wand. «Saubere Sache», jubelte der kleine Schweizer.
Jetzt wandte ich mich dem Tatort zu. Versorgte die Kettensäge, rechte Späne, Tannenzapfen und Nadeln auf einen Haufen, den
ich per Schubkarre zu den anderen Tannenresten verfrachtete. Danach erst mal den Schweiß runterduschen, die harzverklebte
Hose in die Wäsche, frisches Hemd. Der Tannenmörder beseitigt die Spuren seiner ruchlosen Tat. Und nun?
Nun begann der schwierigste Teil. Die mentale Vorbereitung auf Sonjas entsetzte Reaktion. Alibi hatte ich keins. «Nein, Frau
Kommissar, ich bin mit den Hunden spazieren gewesen, und als ich zurückkam, war die Tanne weg. Ich weiß auch nicht, wo sie
hingegangen ist. Jedenfalls lebte sie noch, als ich sie zuletzt gesehen habe.» Ausrede hatte ich auch keine. «Ich schwöre,
Frau Kommissar, ich wollte das nicht. Mir ist die laufende Kettensäge ausgerutscht und hat sich in den Baum gefräst. Ich wollte
es noch verhindern, aber alles ging so schnell …»
Die Schuld auf jemand anderen abwälzen funktionierte wohl auch eher nicht. «Plötzlich stand ein Maskierter auf dem Hof und
bedrohte mich mit einer Kettensäge. ‹Freie Sicht auf Brandenburg›, schrie er und ‹Rache für den Mischwald›, und dann massakrierte
er die schöne Tanne. Ich stehe noch immer unter Schock, Frau Kommissar, bitte gehen Sie jetzt, ich muss das alleine verarbeiten.»
Nein, es blieb mir keine Wahl: Ich musste zu dem stehen, was ich getan hatte. Ich spielte Dutzende von Dialogvarianten durch:
Sonja bricht weinend zusammen, Dieter tröstet sie mit superguten, vernünftigen Argumenten. Sonja sieht ein, dass er recht
hat, und alles wird gut.
Sonja ist tief enttäuscht und spricht von Vertrauensbruch, |144| Dieter sagt, er hätte ja nie versprochen, die Tanne nicht zu fällen. Sonja sieht ein, dass er recht hat, und alles wird gut.
Sonja ist wütend, schimpft und tobt, Dieter schreit zurück und verzieht sich beleidigt nach Berlin. Sonja sieht ein, dass
er recht hat, und alles wird gut.
Sonja sagt gar nichts, wird nur bleich, steigt ins Auto und verlässt Dieter. Monate später erhält er eine Postkarte, auf der
ihm Sonja mitteilt, dass sie in der Karibik eine Baumschule für Weißtannen gegründet hat. Es ginge ihr gut, jetzt. Sie wolle
ihn nie wieder sehen, denn er sei im Unrecht.
Nach einer Stunde sah ich ein: Auf das, was nach Sonjas Rückkehr geschehen würde, gab es keine mentale Vorbereitung. Also
trank ich Kaffee. Taperte ziellos auf dem Hof herum. Streichelte die Hunde. Trank noch einen Kaffee. Reinigte den Eseln und
dem Pferd die Hufe. Schaute nach, ob Post gekommen war. Es war keine Post gekommen.
Ich saß gerade auf der Toilette, als ich hörte, wie der Jeep auf den Hof gefahren wurde. Schlechtes Timing. Gleich würde die
Badezimmertür aufgeschlagen, und Sonja, der Racheengel, würde darin erscheinen und ich mit
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