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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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weiter gelegenen
     Schmachthagen kann man einigermaßen einkaufen, was man für den täglichen Bedarf so braucht. Es gibt die Zigarettenmarke, nach
     der man süchtig ist, es gibt den einen oder anderen
nicht
vorgescheibletteten und vorabgepackten Käse, sogar schweizerischen. Man kriegt mit etwas Glück auch ein Biohähnchen und frisches |148| Gemüse, so frisch es im Supermarkt eben ist. Das Servicepersonal dieser Kettenläden ist dahingehend instruiert, dass sich
     «Hammwanich-Gesichter» negativ auf den Umsatz auswirken.
    Fast alle Amerikaner fahren nach Schmachthagen, um sich konsummäßig einzudecken. Was für den Konsum von Frau Widdel einigermaßen
     blöd ist. Nur die Tatsache, dass nicht alle Amerikaner ein Auto besitzen, der Bus nach Schmachthagen sehr spärlich verkehrt
     und die Bahnlinie überhaupt ganz stillgelegt wurde, rettet Frau Widdel gerade noch über jene Umsatzschwelle hinweg, unterhalb
     deren sie wohl aufgeben müsste.
    Was sie außerdem rettet: ihre Schrippen. Die sind wirklich unschlagbar. Obwohl sie vom Bäcker aus Schmachthagen jeden Morgen
     frisch angeliefert werden, schmecken sie bei Frau Widdel gekauft besser, als wenn man sie direkt von diesem Bäcker bezieht.
     Vielleicht ist es der Transport im Zweitakter des Bäckers, der den Schrippen ihren besonderen Hautgout verleiht. Vielleicht
     kennt Frau Widdel aber auch einen amerikanischen Trick, wie man aus Brötchen Delikatessen zaubert? In Kaffeedampf schwenken
     und dann drei Minuten in die Morgensonne legen, was weiß denn ich! Jedenfalls werden die Schrippen traditionell bei Frau Widdel
     gekauft. Sogar von den Autobesitzern.
    Und wo kauft Frau Widdel ein? Auch in Schmachthagen. Für sich und für den Laden. Sie bezieht die Ware zum Grossistenpreis,
     rechnet dann ihren Aufwand und Gewinn hinzu und erhält so den Preis, den sie ihren Kunden abverlangt. Im Schnitt etwa ein
     Fünftel mehr als im Supermarkt. So rechnet Frau Widdel. Und womit? Mit Recht, denn sie muss ja von etwas leben.
    Blöd ist nur, dass die Kunden ebenfalls rechnen können und die meisten auch müssen. Und womit? Mit Recht, denn warum sollten
     sie ihr sauer verdientes Geld im Dorfladen verschleudern, wo doch dasselbe im Supermarkt billiger zu haben ist?
    |149| Blöd ist das nur für die alteingesessenen Amerikanerinnen ohne Führerschein sowie für einige Klienten, die den ihrigen alkoholbedingt
     «verloren» haben. Diese Restkunden können zwar auch rechnen, aber es nützt ihnen nix. Sie sind auf Gedeih und Verderb auf
     die einzig vorhandene Nächstversorgung angewiesen. Auf Frau Widdel. Deren Preis- und Sortimentsgestaltung ist für sie unabänderliches
     Schicksal. Ganz wie früher, in den guten alten Konsum-Glamourjahren.
    Blöd ist nur, dass, ich will’s mal so sagen, dass diese Klientel ein natürliches Ablaufdatum hat. Sie schmilzt schneller dahin
     als Schweizer Gletscher. Bald wird sie weg sein. Es ist gewissermaßen ein zeitlicher Wettlauf zwischen dem biologisch bedingten
     Abschmelzen der restlichen Stammkundschaft und von Frau Widdels Erreichen ihres wohlverdienten Restlebens als Renterin. Und
     Frau Widdel hält die Lebensdauer ihrer Kundschaft für deren Privatsache   …
    Alles zusammengefasst, besteht leider die realistische Möglichkeit, dass der Dorfladen in Amerika sich nicht mehr lange wird
     tragen können, Frau Widdel in Frührente geht und wir einen großen Schubser näher vor dem Abgrund zum Schlafdorf stehen. Es
     sei denn   … alle, wirklich alle Amerikaner kaufen bei Frau Widdel ein auf Teufel komm raus, aus Solidarität, aus Mikropatriotismus.
     Rettet den Laden, rettet die amerikanische Schrippe, rettet die Führerscheinlosen vor dem Hungertod! Schon mit ein wenig Idealismus
     könnte das klappen. Idealismus ist ein schönes, ein berauschendes Gefühl, es ist wie Verliebtsein. Etwas Wunderbares, ohne
     Idealismus wäre das Leben hienieden trostlos und grau.
    Blöd ist nur, dass auch hehre Gefühle nicht uneigennützig sind. Kein Verliebter vermag seine romantischen Gefühle längerfristig
     zu befeuern, wenn er nicht irgendwann auf Gegenliebe zumindest hoffen darf. Zwar wird er sich tapfer bemühen, reinen Herzens
     und |150| selbstlos zu lieben. Er wird sich jene verbotene Frage verkneifen, die alles zerstört und deren Antwort er daher fürchtet
     wie der Teufel das Weihwasser. Doch über kurz oder kürzer wird sie von ihm wie langsam wirkendes Gift Besitz ergreifen, die
     Killerfrage. Sie lautet: «Was hab ich eigentlich

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