Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
guuuut, Süßer, mein Süßer, ist gut», begann sie eine endlose Litanei, während ihre
Finger durch das Fell des Hundes fuhren. Blutüberströmt ihre großen Hände, jetzt bemerkte sie es, Blut auf der Diele, eine
Lache breitete sich schnell unter Iwans Hals aus. Die Babuschka fand die Wunde, ein warmer Strahl pulste aus ihr. Sie schleifte
den Hund hinter den Tresen, zum Telefon, drückte mit einer Hand auf die Wunde, wählte mit der anderen.
|206| «Schwester Alma!» Die Babuschka klang wie ein verzweifeltes Kind. «Der verblutet, er verblutet mir, Schwester Alma, schnell,
komm, der verblutet, mach es wieder gut, Schwester Alma, bitte, komm!»
Die Babuschka ließ den Hörer fallen, sie brauchte jetzt beide Hände, um das Blut zurückzuhalten. Ungehört baumelte an der
Strippe Schwester Almas Stimme: «Was ist los, wer verblutet, was ist denn … ich komme.»
Im diffusen Licht des dämmernden Morgens hätten die Amerikaner an eine Erscheinung glauben müssen, wenn sie es gesehen hätten:
eine Frau mit kreuz und quer vom Kopf abstehendem flammend rotem Haar, bekleidet nur mit einem weißen Morgenmantel, barfuß
und im Laufschritt die Pfuhle umrundend, ein schwarzes Lederköfferchen in der einen Hand, mit der andern den Morgenmantel
vor der Brust zusammenraffend. Ja, eine wahrhaftige Erscheinung, so lautlos vorbeihuschend. Aber sie lagen noch in ihren Betten,
die Amerikaner, und mussten sich mit jenen Traumbildern begnügen, die ihnen ihr Schlaf vorgaukelte.
Als Schwester Alma den «Wilden Eber» betrat und die blutige Schleifspur sah, die hinter den Tresen führte, und den schweren,
röchelnden Atem des Verletzten hörte, da wusste sie: Es ist ernst, jede Sekunde zählt. Noch im Hinlaufen öffnete sie das Schnappschloss
ihres Köfferchens – und prallte jäh zurück. Der Körper, über den sich die Babuschka beugte, war kein Patient. Das war …
«Wegen dem Köter weckst du mich?», herrschte sie die Babuschka an. Doch als diese zu ihr aufschaute, als sie in dieses große,
tränennasse Gesicht sah, sagte sie: «Schon gut, Babuschka, ich tu, was ich kann», und ging in die Knie. Sie wusste, Iwan war
nicht einfach ein Hund. Für die Babuschka war er Kind, Gefährte, Beschützer, Lebensinhalt. Er war ihr «Du».
«Wenn der mich beißt, geb ich ihm eigenhändig den Rest, das |207| schwöre ich dir, Babuschka», brummte Schwester Alma. Ausgerechnet sie sollte einem Hund das Leben retten, sie, die sich immer
schon vor diesen Viechern gefürchtet hatte, so eine verfluchte Sch …
«Der tut nichts, der spürt doch, dass du ihm hilfst», entgegnete die Babuschka.
«Ich will, dass du ihn festhältst, du sollst ihm die Schnauze zuhalten, verdammt, sonst rühr ich ihn nicht an.»
Babuschka gehorchte und begann wieder mit ihrer Litanei: «Ist gut, Süßer, alles wird gut, mein Kleiner, Schwester Alma hilft
dir, das schaffen wir schon.»
Ob es der Singsang der Babuschka war oder ob Iwan tatsächlich merkte, dass Schwester Alma ihm helfen konnte, wer weiß, vielleicht
war er auch einfach schon sehr geschwächt durch den Blutverlust. Jedenfalls machte er keinen Muckser und keinen Zucker, als
ihm Schwester Alma fachmännisch einen Druckverband anlegte. Er ließ es auch still über sich ergehen, dass ihn die beiden Frauen
mit einiger Mühe in den Trabi der Babuschka stopften.
Die Sonne stand nun knapp über dem Horizont und warf ein dramatisch rotes, klares Theaterlicht auf die zweite Erscheinung,
welche Schwester Alma auf ihrem Rückweg abgab. Diesmal wurde sie sehr wohl gesehen, einige Amerikaner waren mittlerweile wach.
Noch Jahrzehnte später beschreiben sie das, was sich ihnen da zu früher Morgenstunde dargeboten hat, immer wieder gerne: Eine
Frau mit kreuz und quer vom Kopf abstehendem flammend rotem Haar geht mit bloßen Füßen langsam an der Pfuhle lang. An ihrer
Seite trägt sie nachlässig schlenkernd ein schwarzes Lederköfferchen. Die andere Hand hält vor ihrer Brust das einzige Kleidungsstück
zusammen, das sie zu tragen scheint: einen weißen Morgenmantel, über und über besudelt mit hellrot leuchtendem Blut. Plötzlich
bleibt die Erscheinung am Wasser stehen, dessen glatte Oberfläche spiegelt das Weiß und das Rot. Die Frau wirft ihren |208| Kopf in den Nacken, ihr Haar fliegt, sie ruft: «Jetzt hab ich auch noch ’nen Köter auf meiner Liste», und bricht in Lachen
aus.
Eine Woche später, Schwester Alma und ihre Helena saßen gerade beim
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