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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanbine Czerny
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Wissen sie durch den Unterricht verinnerlicht hatten. Kaum ein Elternteil vertraute natürlich — angesichts der zukunftsentscheidenden Auswirkungen, insbesondere in der vierten Klasse — gelassen darauf, dass das ausreicht. Dadurch standen Eltern eigentlich ständig unter der Anspannung, dass möglicherweise die nächste Probe bald geschrieben würde. Da man sich so nicht gezielt daheim auf eine Probe vorbereiten konnte, wurde also für verschiedene Fächer auf einmal gepaukt, statt die Gartenparty zu genießen oder gemeinsame Zeit bei einem Familienspiel zu verbringen. So sagte dann manch ein Papa stolz und freudig: „ Wir haben in Mathe eine Zwei geschrieben!“
    Nachdem die Klagen über den Übertrittsdruck immer vehementer wurden und die Berichte über gesundheitliche und psychische Beschwerden der Kinder zunahmen, wurden die Bestimmungen zum Übertritt verändert. Jetzt wurde für die vierten Klassen in Bayern beispielsweise beschlossen, wie viele Proben in jedem Fach abgehalten werden — Richtwerte, an die sich jede Schule halten soll. Die Lehrerkonferenz legt zu Beginn des Schuljahres prüfungsfreie Phasen, vier Wochen pro Halbjahr, in denen keine Probe geschrieben wird, fest. Die Proben selbst werden spätestens eine Woche vor dem Probentermin angekündigt. Damit sollte ein kindgerechtes Übertrittsverfahren geschaffen werden. Doch die neuen Übertrittsregelungen sind nicht weniger stressig. Die probenfreien Zeiträume dürfen für jedes Fach individuell festgelegt werden, sodass es in der Praxis weiterhin kaum tatsächlich probenfreie Wochen gibt. Meist werden sie zudem in die Woche nach den Schulferien gelegt, also in eine Zeit, in der bislang auch selten Proben geschrieben
wurden. Die Proben stauen sich vor den Ferien und gerade in der Vorweihnachtszeit also weiterhin, und weiterhin muss auf mehrere Fächer gleichzeitig gepaukt werden. Die Zeiträume zwischen den Proben sind immer noch klein und Unterricht findet nach wie vor unter Zeitdruck statt.
    Mit der Neuerung, die Proben anzukündigen, verband das Kultusministerium gleichzeitig die Erklärung: „Dies schult Arbeitstechniken, die in Jahrgangsstufe 5 vorausgesetzt werden …“ Außerdem: „… sollen die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit erhalten, sich sinnvoll vorzubereiten.“ 4 In der Praxis heißt das noch verstärkt zu pauken, weil es jetzt keinen Grund mehr gibt, warum die Hefteinträge und die Begrifflichkeiten nicht sicher beherrscht werden könnten. Eltern berichten im persönlichen Gespräch, dass seitdem die Anforderungen in den Proben noch weiter gestiegen seien, die Ergebnisse der Kinder sich aber nicht verbessert hätten. Wenngleich die Eltern die Ankündigung der Proben an sich schätzen, wird die gemeinsame Zeit mit dem Kind immer noch mit Lernen verbracht, die Gartenparty wird weiterhin nicht genossen, Zeit für ein Familienspiel gibt es immer noch nicht. Und manch ein Kind verbringt die Nacht vor der Probe schlaflos und mit Magenschmerzen. Der Übertrittsdruck wurde durch keine dieser Maßnahmen wirklich dezimiert.
    Wie auch — die Auslese erfolgt unweigerlich, jede Schulart muss bedient werden und damit ist von vornherein absehbar, dass der Kampf um die wenigen Plätze an den weiterführenden Schulen stattfinden wird. Ja, teilweise gar unerbittlich geführt wird: Eltern feilschen um Punkte, belagern die Lehrer, vergleichen die Proben verschiedener Schulen, kopieren Probearbeiten, überprüfen bis ins Detail die Vorgaben im Lehrplan, informieren sich ausführlich über ihre Rechte und drohen mit Rechtsanwalt und juristischen Schritten — diese Aufzählung ließe sich fortführen. Geändert hat sich durch die neuen Bestimmungen auch nicht, dass wir gerade die Kinder an diesem Scheideweg verlieren, die von zu Hause aus sowieso schon benachteiligt sind. Es gibt kein kindgerechtes Übertrittsverfahren, da der Übertritt an sich nicht kindgerecht ist.

    Wie auch immer man also versucht, Details zu optimieren: Es ändert einfach nichts an dem Grundübel, dass unsere Schule eine Prüfschule ist. Eine Prüfschule mit dem Ziel der Selektion. Schon in der dritten Klasse, da sind die Kinder gerade etwa acht Jahre alt, werden in den sechzehn Wochen bis Notenschluss zum Halbjahreszeugnis in der Regel mindestens jeweils drei Proben geschrieben in Mathematik, Heimat- und

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