Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Wochen später stand die Diagnose ADS für diesen zarten Jungen fest, und er bekam von nun an täglich Ritalin.
Jetzt wurde er nicht mehr so rasch müde, und die Buchstaben schrieb er auch ordentlicher in die Zeilen, die Mutter strahlte. Ich bin kein Arzt und kann daher dieses Vorgehen nicht beurteilen. Ich möchte mich auch nicht an der Diskussion beteiligen, ob ADS/ADHS möglicherweise eine mehr oder weniger âerfundeneâ Krankheit ist, damit sich die entsprechenden Medikamente gut verkaufen. Ebenso wenig kann ich beweisen, dass das auffällige Verhalten bestimmter Kinder nicht andere, eher gesellschaftliche Aspekte zur Ursache hat, die dadurch eigentlich ins Blickfeld rücken und behoben werden sollten. Die kontroverse Berichterstattung erschwert zudem eine kompetente Beurteilung; es scheint ja nicht einmal zweifelsfrei belegbar, dass es überhaupt einen Test zum Nachweis des Dopaminmangels im Hirn gibt, der ursächlich für ADS/ADHS sein soll (siehe auch Informationskapitel âADHSâ, ab Seite 65). Möglicherweise ist die Diagnose bei diesem Jungen doch eher aufgrund meiner Einschätzung im Fragebogen und aufgrund anderer Symptome erstellt worden.
Vielleicht darf ich mich aber zumindest wundern, warum in den letzten Jahren immer mehr Kinder Ritalin bekommen. Vielleicht darf ich auch den Kopf schütteln, wenn ich in Artikeln lese, wie viele Erwachsene ihren Beruf nur noch erfolgreich ausüben können, indem sie Psychopharmaka einnehmen. Was sagt es über unsere Gesellschaft, dass sie nur noch so zu funktionieren scheint? Vielleicht sollte ich aber auch an mir zweifeln, weil ich einfach nur der Meinung bin, dass Kinder allgemein und dieser Junge im Besonderen Zeit zum Entwickeln bräuchten.
Heulen hätte ich können, als ich an diesem Tag nach Hause ging. Was tun wir unseren Kindern an? Und alles nur wegen dieser Noten. Noten, die laut mehrerer Expertisen und Untersuchungen
weder die Motivation steigern noch Auskunft über das tatsächliche Können geben, noch die individuelle Förderung unterstützen. Vielleicht braucht sie manch ein Lehrer zur Disziplinierung, aber eigentlich dienen sie ausschlieÃlich der Selektion. Diese wiederum wird eben durch die Noten begründet: Die Leistungsunterschiede der Kinder seien doch so groà - das sähe man doch an den Noten! Was für ein Unsinn. Fatal auch deshalb, weil viele Menschen, gerade auch Lehrer, nur noch in diesen Dimensionen denken. Man sieht gar nicht mehr die einzelnen Kinder, man sieht nur noch die Unterschiede der Kinder: zu einem bestimmten Zeitpunkt und bestimmte Kriterien betreffend. Fällt irgendjemandem auf, dass in der zweiten Klasse alle Kinder lesen und schreiben können, auch diejenigen, die âWaldâ in der ersten Klasse noch nicht schreiben konnten? Dass das Mädchen, das in der Einmaleins-Probe eine Fünf geschrieben hat, wenige Wochen später alle Einmaleinsfolgen dennoch beherrscht, dass der Unterschied in den Proben auf die Nichtbeantwortung einiger weniger, zudem oft abstruser Fragen zurückzuführen ist? Dass es oft in den Proben ein reines Zeitproblem ist, dass Kinder, die langsamer oder sogar wesentlich genauer arbeiten oder verträumter sind, einfach nicht fertig werden und dadurch weniger Punkte erzielen? Dass Kindern teilweise nur wenige Minuten Bearbeitungszeit fehlen, die jedoch im Ergebnis einen Unterschied von mehreren Notenstufen ausmachen? Es ist eine folgenschwere Sichtweise, die wir uns hier angeeignet haben.
Schwierig wird es allerdings, wenn all diese teilweise verzweifelten MaÃnahmen â Nachhilfe, Förderkurse und selbst Ritalin â nicht greifen. Wenn einfach alles Ãben nichts hilft und das Kind immer noch die Vierer, Fünfer oder gar Sechser nach Hause bringt, dann tritt oft eine gewisse Resignation ein. So langsam gewöhnen sich die Eltern dann an den Gedanken, dass sie âeben einfach kein kluges Kind habenâ. Viele geben auf. Und: Ja, Kinder merken das. Wie eine Erlösung wirkt es dann manchmal, wenn das Kind eine Leserechtschreibschwäche (LRS) oder Rechenschwäche (Dyskalkulie) von der Schulpsychologin anerkannt bekommt, auf deren nächsten freien
Termin man sehnlichst gewartet hat. âEs liegt nicht an unsâ, sagen dann viele Eltern, âunser Kind kann auch nichts dafür. Es ist einfach so.â Das ist ein Moment, in dem manchmal wieder etwas Frieden in die Elternhäuser
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