Was wir unseren Kindern in der Schule antun
ist nicht, ob Katja sich endlich zutraut, vor der Klasse zu sprechen, ob Paul es schafft, nicht sofort einem Kameraden ans Schienbein zu treten, wenn der ihn einfach nur anschaut, ob Claudia von allein eine Aufgabe beginnt oder Steffi beim Geburtstagskuchenessen ein anderes Mädchen zuerst ihr Stück wählen lässt â nein, andere Dinge spielen eine Rolle. Das Wesentliche ist nämlich, dass der Schulrat oder der Schulleiter, der zur Visitation kommt, einfach einen Haken hinter jeden Punkt auf seiner Liste setzen kann. Zur Beurteilung ist er eine Stunde in der Klasse, weder Eltern noch Kinder werden gehört. Also muss man als Lehrer nachweisen, was alles gemacht wird und wie oft. âWo ist Ihr Stationentraining für diese Woche, die Wochenplanarbeit, Werkstattarbeit, Gruppenarbeit, Partnerarbeit? Welche Projekte führen Sie durch? Wo sind die Freiarbeitsmaterialien? Wie sieht das Klassenzimmer aus? Wie ist die Teamarbeit mit den Kollegen? An welchen Arbeitsgruppen nehmen Sie teil? Welche Beiträge leisten Sie zum Schulleben, welche Feste und Veranstaltungen haben Sie organisiert und durchgeführt, welche Konzepte erarbeitet und umgesetzt? Wie bringen Sie sich auÃerschulisch ein? Welche Ehrenämter haben Sie inne? Welche Veröffentlichungen können Sie vorweisen? Welche Fortbildungen haben Sie gegeben, welche besucht?â Das sind die Themen, die zählen. Diese Situation führt immer mehr dazu, dass die Klassenzimmer eher Schaufenstern zur Weihnachtszeit gleichen und dort ungenutztes
Freiarbeitsmaterial vorhanden ist â und zwar einzig für den Fall, dass der Schulrat unerwartet vor der Tür steht. Von allem und jedem werden inzwischen Fotos als Nachweis gemacht, alles wird möglichst sichtbar gehalten. Mein Klassenzimmer, mein Freiarbeitsmaterial, mein Projekt⦠Unter Umständen bekommt man gar noch den Tipp, in den Wochenplan Dinge zu schreiben, die man gar nicht gemacht hat â nachprüfen könne und würde das sowieso keiner, aber der Schulrat würde seinen Haken setzen. Neben dem Wochenplan, bei dem im Voraus für jede Stunde festgelegt werden muss, was in dieser Zeit erarbeitet wird, muss man auch einen individuellen, auf die â bis dahin oft noch unbekannte â Klasse zugeschnittenen Jahresplan führen, der ebenfalls im Voraus, meist in den Sommerferien, erstellt wird. Jedes Jahr neu, mit allen Querverweisen auf den Lehrplan, um Fächerverbindungen deutlich zu machen. Da hinein gehören auch genaue Angaben über Materialien, Filme und Ãhnliches. Auch das ist wieder eine Arbeit, die mehrere Tage Zeit kostet, aber in diesem Detailreichtum sinnlos ist, da bereits nach wenigen Wochen die Planung über den Haufen geworfen wird â die Absprachen in den wöchentlichen Teamsitzungen und der erzwungene Gleichschritt mit den Kollegen nötigen die Lehrer dazu.
Mit der Schaffung von Beförderungsämtern für die Grundschule wurde das alles noch auf die Spitze getrieben. Da soll nun ein Schulleiter aus seinem Kollegium, das er mit viel Mühe zu einer mehr oder weniger eingeschworenen Gemeinschaft geformt hat und in welchem sich zunehmend jeweils mehrere Lehrer auf ein gleiches Vorgehen einigen sollen, zwei oder drei Kollegen auswählen, die eine Beförderung verdienen. Wie soll ihm das gelingen, ohne dass es zu Zwistigkeiten im Kollegium kommt? Zudem ist nach meiner Erfahrung das Verhältnis genau anders herum: Die allermeisten Kollegen sind sehr fleiÃig, es gibt vielleicht gerade mal zwei oder drei Kollegen, die nicht so engagiert arbeiten. Am besten man hört einfach auf den Schulrat, der dafür eine geniale Lösung bereithält. Man möge auf die Auserwählten stolz sein, ihnen die höhere Vergütung gönnen und sein eigenes Engagement dafür aber nicht einschränken
â wenn es nur so einfach wäre. Nein, absichern vor dem Vorwurf der Ungerechtigkeit und Vetternwirtschaft kann sich ein Rektor nur, wenn er plausibel und einleuchtend belegt, was die Auserwählten alles tun. Hier scheiden sich dann oft die Lehrer: Den einen wird die Karriere und das Geld wichtig und sie engagieren sich auÃerhalb der Klasse oder sammeln ÃuÃerlichkeiten, die anderen schlieÃen mit Karriere-Ambitionen für sich ab und sagen, mir sind die Kinder wichtig und vieles, was ich bei ihnen bewirke, findet eben im Stillen statt, vieles davon ist weder sofort sichtbar noch nachweisbar, aber all das
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