Washington Square
durchquerte das Zimmer, gesellte sich zu seiner Schwester und ihrem Gesprächspartner und machte ihr ein Zeichen, sie möge ihm den jungen Mann überlassen. Sie tat das augenblicklich, während Morris ihn lächelnd ansah, ohne daß in seinem leutseligen Blick das geringste Anzeichen zu erkennen war, daß er sich ihm gern entzogen hätte.
»Er ist erstaunlich gewitzt!« dachte der Doktor und sagte dann vernehmlich: »Wie ich höre, sehen Sie sich nach einer Stellung um.«
»Oh, ich möchte mir nicht anmaßen, es eine Stellung zu nennen«, antwortete Morris Townsend. »Das klingt gleich so großartig. Ich hätte gern eine geruhsame Beschäftigung – etwas zum Dazuverdienen.«
»Was würden Sie denn am liebsten tun?«
»Meinen Sie, wofür ich mich eigne? Für sehr wenig, fürchte ich. Ich habe nichts als meinen starken rechten Arm, wie es in den Melodramen heißt.«
»Sie sind allzu bescheiden«, sagte der Doktor. »Außer Ihrem starken rechten Arm haben Sie auch noch Ihren klugen Kopf. Ich weiß von Ihnen lediglich, was ich sehe; aber ich sehe Ihren Gesichtszügen an, daß Sie außerordentlich intelligent sind.«
»Ach«, sagte Townsend vor sich hin, »ich weiß gar nicht, was ich auf so etwas sagen soll. Sie raten mir also, die Hoffnung nicht aufzugeben?«
Und er sah dabei seinen Gesprächspartner so an, als sei die Frage womöglich doppelsinnig. Der Doktor fing den Blick auf und wog ihn einen Moment lang ab, ehe er entgegnete: »Ich würde äußerst ungern zugestehen, daß |75| ein kräftiger und hochbegabter Mann jemals die Hoffnung aufgeben müßte. Wenn er mit der einen Sache keinen Erfolg hat, kann er es mit einer andern versuchen. Nur, möchte ich hinzufügen, sollte er sich seine Beschäftigung mit Bedacht wählen.«
»O ja, mit Bedacht«, wiederholte Morris Townsend zustimmend. »Nun ja, ich war früher unbedacht; aber ich glaube, darüber bin ich hinaus. Jetzt bin ich sehr besonnen.« Und er verharrte einen Augenblick und sah auf seine bemerkenswert eleganten Schuhe hinab. Dann erkundigte er sich schließlich, während er lächelnd aufsah: »Hatten Sie etwa freundlicherweise die Absicht, mir etwas Günstiges vorzuschlagen?«
›Verdammte Unverschämtheit!‹ entfuhr es dem Doktor insgeheim. Aber dann bedachte er, daß schließlich er selbst zuerst diesen delikaten Punkt berührt hatte und daß seine Worte als ein Angebot von Hilfe gedeutet werden konnten. »Ich habe keinen bestimmten Vorschlag zu machen«, sagte er unverzüglich, »doch ich wollte Sie wissen lassen, daß ich an Sie denke. Mitunter erfährt man von günstigen Gelegenheiten. Hätten Sie, zum Beispiel, etwas dagegen, New York zu verlassen – in die Ferne zu ziehen?«
»Ich fürchte, dazu bin ich nicht in der Lage. Ich muß mein Glück hier suchen und sonst nirgends. Sehen Sie«, setzte Morris Townsend hinzu, »ich habe Bindungen – ich habe Verpflichtungen hier. Ich habe eine Schwester, eine Witwe, von der ich lange getrennt war und der ich fast alles bedeute. Ich würde ihr nur ungern sagen, daß ich sie verlassen müsse. Sie ist ziemlich auf mich angewiesen, verstehen Sie.«
»Oh, das ist sehr angebracht; Familiensinn ist sehr angebracht«, sagte Dr. Sloper. »Ich denke mir oft, in unserer |76| Stadt gibt es nicht genug davon. Ich glaube, ich habe schon von Ihrer Schwester gehört.«
»Das ist möglich, aber ich bezweifle es fast; sie lebt derartig zurückgezogen.«
»So zurückgezogen, meinen Sie«, fuhr der Doktor mit einem kurzen Lachen fort, »wie das einer Dame möglich ist, die mehrere kleine Kinder hat.«
»Ach, meine kleinen Neffen und Nichten – das ist genau der springende Punkt! Ich helfe bei ihrer Erziehung mit«, sagte Morris Townsend. »Ich bin eine Art Amateurhauslehrer; ich gebe ihnen Unterricht.«
»Das ist sehr angebracht, wie gesagt; aber es ist doch eigentlich kein Beruf.«
»Es wird mir wohl kein Vermögen einbringen«, bekannte der junge Mann.
»Sie dürfen nicht zu sehr auf ein Vermögen aus sein«, sagte der Doktor. »Aber ich versichere Ihnen, daß ich an Sie denken will; ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren.«
»Falls meine Lage hoffnungslos wird, nehme ich mir vielleicht die Freiheit, Sie daran zu erinnern«, erwiderte Morris und erhob mit einem strahlenden Lächeln ein wenig seine Stimme, da sich sein Gesprächspartner anschickte wegzugehen.
Ehe der Doktor das Haus verließ, wechselte er noch ein paar Worte mit Mrs. Almond.
»Ich würde gern seine Schwester aufsuchen«, sagte er. »Wie
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