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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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einen Augenblick. »Die Neffen und Nichten sind Kinder, und die Schwester ist keine sehr vorteilhafte Person.«
    »Ich hoffe, er macht sie nicht schlecht vor dir«, sagte der Doktor, »denn ich habe erfahren, daß er ihr auf der Tasche liegt.«
    »Er liegt ihr auf der Tasche?«
    »Er wohnt bei ihr und tut selbst nichts; das läuft ungefähr auf dasselbe hinaus.«
    »Er sieht sich ganz ernsthaft nach einer Stellung um«, sagte Mrs. Penniman. »Er hofft jeden Tag, eine zu finden.«
    »Genau. Er sieht sich hier danach um – dort drüben im vorderen Salon. Die Stelle des Gemahls einer geistig |71| minderbemittelten Frau mit einem umfangreichen Vermögen würde ihm ausgezeichnet passen!«
    Mrs. Penniman war wahrhaftig gutmütig; jetzt aber verriet sie Anzeichen von Gereiztheit. Sie sprang lebhaft auf und blieb, den Blick auf den Bruder gerichtet, einen Moment stehen. »Mein lieber Austin«, bemerkte sie, »wenn du Catherine für eine geistig minderbemittelte Frau hältst, bist du gewaltig im Irrtum!« Und damit schritt sie majestätisch hinweg.

|72| 9. KAPITEL
    Die Familie am Washington Square hatte die feststehende Gepflogenheit, den Sonntagabend bei den Almonds zu verbringen. Auch am Sonntag nach dem Gespräch, das ich eben berichtet habe, wurde diese Gepflogenheit nicht unterbrochen; und bei dieser Gelegenheit, um die Mitte des Abends, fand Dr. Sloper einen Grund, sich mit seinem Schwager in die Bibliothek zurückzuziehen, um eine geschäftliche Angelegenheit zu besprechen. Er war etwa zwanzig Minuten aus dem Zimmer, und als er in den Kreis zurückkehrte, der durch die Anwesenheit mehrerer Freunde der Familie belebt war, sah er, daß Morris Townsend gekommen war und sich im Handumdrehen auf ein kleines Sofa neben Catherine setzte. In dem großen Raum, in dem sich mehrere verschiedene Gruppen gebildet hatten und Stimmengewirr wie Gelächter beträchtliche Lautstärke erreicht hatten, konnten diese zwei jungen Leute miteinander »konfabulieren«, wie es der Doktor für sich ausdrückte, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er sah indes sofort, wie seiner Tochter peinlich bewußt wurde, daß er sie beobachtete. Sie saß regungslos da, mit niedergeschlagenen Augen, starrte hocherrötet auf ihren geöffneten Fächer und machte sich klein, wie um die Unbesonnenheit zu vermindern, derer sie sich schuldig bekannte.
    Dem Doktor tat sie fast leid. Die arme Catherine war nicht trotzig; sie hatte keine Veranlagung zu herausforderndem Auftreten, und da sie gewahr wurde, daß ihr |73| Vater die Aufmerksamkeiten ihres Gesprächspartners mit unliebsamem Blick verfolgte, empfand sie nichts als Unbehagen, da ihm der Vorfall wie eine Herausforderung erscheinen mußte. Der Doktor fühlte in der Tat solches Bedauern mit ihr, daß er sich abwandte, um ihr den Eindruck, daß sie beobachtet werde, zu ersparen; und er war ein so intelligenter Mann, daß er ihrer Situation in Gedanken eine Art poetischer Gerechtigkeit widerfahren ließ.
    ›Es muß verteufelt angenehm sein für ein so reiz- und geistloses Mädchen, wenn ein schöner junger Kerl kommt, sich neben es setzt und ihm zuflüstert, er sei sein Sklave – falls es das ist, was er da flüstert. Kein Wunder, daß Catherine das behagt und daß sie mich für einen grausamen Tyrannen hält, was sie gewiß tut, obwohl sie – aus Mangel an erforderlichem Temperament – Angst hat, sich das einzugestehen. Arme alte Catherine!‹ grübelte der Doktor, ›ich glaube wahrhaftig, sie ist imstande, mich zu verteidigen, wenn mich Townsend schlechtmacht!‹
    Und dieser Gedanke hatte einen Augenblick eine so starke Wirkung, daß er ihn den natürlichen Gegensatz zwischen seinem Standpunkt und dem seines verliebten Kindes fühlen ließ und er sich sagte, er nehme womöglich die Dinge doch zu schwer und schreie auf, noch bevor er verletzt sei. Er durfte Morris Townsend nicht ungehört verdammen. Seine Abneigung, die Dinge zu schwer zu nehmen, war stark ausgeprägt; er war der Ansicht, die Hälfte allen Verdrusses und viele der Enttäuschungen des Lebens seien darauf zurückzuführen; und einen Moment fragte er sich, ob er diesem intelligenten jungen Mann, dem er eine sehr ausgeprägte Empfindung für Ungereimtheiten zutraute, nicht womöglich lächerlich erscheine. Eine Viertelstunde später war ihn Catherine |74| losgeworden, und Townsend stand nun vor dem Kamin und unterhielt sich mit Mrs. Almond.
    »Wir wollen ihm doch noch einmal auf den Zahn fühlen«, sagte sich der Doktor. Und er

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