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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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vor, und sie war in Verwunderung versunken über das Ungewöhnliche – ja, Widernatürliche dieser Wahl.

|80| 10. KAPITEL
    Catherine empfing den jungen Mann am nächsten Tag an dem Platz, den sie ausgewählt hatte – inmitten der schmucklosen Innenausstattung eines New Yorker Salons in der Mode der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts. Morris hatte seinen Stolz unterdrückt und brachte die Überwindung auf, die unumgänglich war, um die Schwelle ihres allzu spottlustigen Vaters zu überschreiten – ein Akt der Großmut, der nicht verfehlen konnte, ihn noch einmal so interessant zu machen.
    »Wir müssen etwas unternehmen – wir müssen unser Vorgehen festlegen«, erklärte er, indem er sich mit der Hand durchs Haar fuhr und einen Blick auf den langen, schmalen Spiegel warf, der den Raum zwischen den zwei Fenstern schmückte und unter dem sich eine kleine vergoldete Konsole befand, bedeckt mit einer dünnen weißen Marmorplatte, die ihrerseits ein Puffspielbrett trug, das zusammengefaltet war in Form zweier Bücher – zweier glänzender Folianten, die in grünlichgoldenen Buchstaben mit »Geschichte Englands« beschriftet waren. Wenn es Morris gefallen hatte, den Herrn des Hauses als herzlosen Spötter zu bezeichnen, so deshalb, weil er meinte, er sei allzusehr auf der Hut, und das war die einfachste Art, seine Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen – eine Unzufriedenheit, die er dem Doktor tunlichst verborgen hatte. Der Leser wird wahrscheinlich finden, daß die Wachsamkeit des Doktors keineswegs übertrieben war und diese zwei jungen Leute freie |81| Hand hatten. Ihre Vertraulichkeit hatte nunmehr ein beträchtliches Maß erreicht, und es mag den Eindruck erwecken, für einen scheuen und zurückhaltenden Menschen sei unsere Heldin mit ihren Gunstbezeigungen freigiebig gewesen. Der junge Mann hatte sie innerhalb weniger Tage dazu gebracht, sich Dinge sagen zu lassen, von denen sie nicht gedacht hätte, daß sie in der Lage sei, sie anzuhören; da er eine lebhafte Vorahnung künftiger Schwierigkeiten hatte, schickte er sich jetzt an, soviel wie möglich an Boden zu gewinnen. Er rief sich in Erinnerung, daß das Glück den Mutigen begünstige, und selbst wenn er das vergessen hätte, würde sich Mrs. Penniman für ihn daran erinnert haben. Mrs. Penniman entzückte nichts mehr als ein Drama, und sie gab sich der Hoffnung hin, daß sich nun ein Drama abspielen werde. Indem sie den Eifer der Souffleuse mit der Ungeduld des Zuschauers vereinigte, hatte sie seit langem das Äußerste getan, um den Vorhang aufziehen zu können. Darüber hinaus rechnete sie damit, eine Rolle in der Aufführung zu spielen – als Vertraute, als Chor, als Sprecherin des Epilogs. Man könnte sogar sagen, daß es Zeiten gab, wo sie die bescheidene Heldin des Stückes gänzlich aus dem Blick verlor und sich der Erwartung gewisser großer Szenen hingab, die sich selbstverständlich zwischen dem Helden und ihr abspielen würden.
    Was Morris letzten Endes Catherine gesagt hatte, war ganz einfach, daß er sie liebe oder vielmehr anbete. Im Grunde genommen hatte er ihr das bereits zu erkennen gegeben – seine Besuche waren eine Reihe beredter Erklärungen dessen gewesen. Jetzt aber hatte er es bestätigt durch Liebesschwüre, und als denkwürdiges Zeichen hatte er seinen Arm um die Taille des Mädchens |82| gelegt und ihr einen Kuß geraubt. Zu dieser glückseligen Gewißheit war es früher gekommen, als Catherine erwartet hatte, und es war nur natürlich, daß sie ihr wie ein unvergleichlicher Schatz vorkam. Man könnte sogar bezweifeln, ob sie jemals mit Sicherheit erwartet hatte, das zu erlangen; sie hatte nicht darauf gewartet und sich nie gesagt, daß es im gegebenen Augenblick kommen müsse. Wie ich bereits zu erklären versuchte, war sie nicht begierig und anspruchsvoll; sie nahm einfach, was sich ihr von Tag zu Tag bot; und hätte die bezaubernde Gewohnheit der Besuche ihres Liebhabers, die ihr ein Glück gewährten, in dem sich Zuversicht und Ängstlichkeit eigentümlich vermengten, plötzlich ein Ende gefunden, so würde sie sich nicht nur nicht als eine Verlassene bezeichnet, sondern sich nicht einmal für eine Enttäuschte gehalten haben. Nachdem Morris sie bei ihrem letzten Zusammensein geküßt hatte, als eine ausgereifte Beteuerung seiner Ergebenheit, bat sie ihn, zu gehen, sie allein zu lassen, damit sie nachdenken könne. Morris ging, nachdem er ihr zuvor noch einen Kuß geraubt hatte.
    Was aber Catherines Überlegungen

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