Washington Square
nicht ohne Zweifel an ihrer Befähigung für gesellschaftliche Angelegenheiten, jedoch ausgezeichneten Fähigkeiten für praktische Dinge – dies war sein flüchtiges geistiges Resümee von Mrs. Montgomery, die seinen Besuch als Ehre betrachtete und sich dadurch, wie ihm nicht entging, geschmeichelt fühlte. Mrs. Montgomery in ihrem roten Häuschen an der Second Avenue war ein Mensch, für den Dr. Sloper einer der großen Männer war, einer der feinen Herren New Yorks; und während sie ihren erregten Blick auf |107| ihn richtete, während sie die Hände, an denen sie Halbhandschuhe trug, in ihrem glänzenden Popelinekleidschoß ineinanderkrampfte, erweckte sie den Eindruck, als wolle sie sich sagen, daß er ganz ihrer Vorstellung davon entsprach, wie ein vornehmer Gast selbstverständlich sein würde. Sie entschuldigte sich für ihre Verspätung; doch er fiel ihr ins Wort.
»Das macht nichts«, sagte er; »denn während ich hier saß, hatte ich Zeit, zu überdenken, was ich Ihnen sagen möchte, und mir darüber klarzuwerden, wie ich beginnen soll.«
»Oh, beginnen Sie doch!« murmelte Mrs. Montgomery.
»Das ist nicht so einfach«, sagte der Doktor lächelnd. »Sie werden meinem Brief entnommen haben, daß ich Ihnen ein paar Fragen stellen möchte, und Sie werden es vielleicht nicht sehr angenehm finden, sie zu beantworten.«
»Ja; ich habe mir darüber Gedanken gemacht, was ich sagen soll.«
»Aber Sie müssen meine Lage verstehen – meine innere Haltung. Ihr Bruder wünscht meine Tochter zu heiraten, und ich möchte herausfinden, von welcher Art der junge Mann ist. Eine gute Möglichkeit dazu schien mir, zu Ihnen zu kommen und Sie zu fragen, was ich nun in Angriff genommen habe.«
Mrs. Montgomery nahm die Situation offensichtlich sehr ernst; sie befand sich in einem Zustand äußerster pflichtbewußter Konzentration. Ihre hübschen Augen, die von einer Art strahlender Bescheidenheit leuchteten, hielt sie auf die Miene des Doktors gerichtet und widmete sichtlich jedem seiner Worte die ernsthafteste Aufmerksamkeit. Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß |108| sie seine Absicht, sie aufzusuchen, für einen vorzüglichen Gedanken hielt, aber daß sie sich eigentlich davor fürchtete, über Dinge, die ihr ungeläufig waren, Meinungen zu entwickeln.
»Ich freue mich außerordentlich, Sie kennenzulernen«, sagte sie in einem Ton, der gleichzeitig zu gestehen schien, daß dies nichts mit dem Problem selbst zu tun habe.
Der Doktor nützte dieses Geständnis aus. »Ich habe Sie nicht zu Ihrem Vergnügen aufgesucht; ich bin gekommen, um Sie zu veranlassen, unangenehme Dinge zu sagen – und daran können Sie keinen Gefallen finden. Was für ein Herr ist Ihr Bruder?«
Mrs. Montgomerys strahlender Blick wurde unklar und begann umherzuschweifen. Sie lächelte ein wenig und gab eine Zeitlang keine Antwort, so daß der Doktor schließlich ungeduldig wurde. Und als ihre Antwort erfolgte, war sie nicht befriedigend. »Es ist schwierig, über seinen Bruder zu sprechen.«
»Nicht, wenn man ihn gern hat und wenn man eine Menge Gutes sagen kann.«
»Doch, selbst dann, nämlich wenn sehr viel davon abhängt«, entgegnete Mrs. Montgomery.
»Für Sie hängt ja nichts davon ab.«
»Ich meine, für – für –«, und sie zögerte.
»Für Ihren Bruder. Ich verstehe.«
»Ich meine, für Miss Sloper«, sagte Mrs. Montgomery.
Dem Doktor gefiel das; es hatte den Klang von Aufrichtigkeit. »Genau; das ist der springende Punkt. Wenn mein armes Mädchen Ihren Bruder heiraten sollte, würde alles – soweit es ihr Glück angeht – davon abhängen, daß er ein guter Kerl ist. Sie ist das beste Geschöpf der Welt, und sie könnte ihm niemals auch nur eine Spur |109| Unrecht tun. Wenn andererseits er nicht ganz so sein sollte, wie wir wünschen, könnte er sie höchst unglücklich machen. Und deshalb möchte ich gern, daß Sie etwas Licht auf seinen Charakter werfen, wissen Sie. Natürlich sind Sie dazu nicht verpflichtet. Meine Tochter, die Sie nie gesehen haben, bedeutet Ihnen nichts; und ich bin in Ihren Augen womöglich nur ein taktloser und unverschämter alter Mann. Es steht Ihnen völlig frei, mir zu sagen, daß mein Besuch gegen den Takt verstößt und daß ich besser daran täte, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Aber ich glaube nicht, daß Sie das tun; denn ich kann mir vorstellen, daß wir Ihre Teilnahme erwecken – mein armes Mädchen und ich. Falls Sie Catherine kennenlernen sollten, würden Sie
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