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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Schwiegersohns darin bestünde, an der väterlichen Tafel zu dinieren, würde ich großen Wert auf Ihren Bruder legen; er diniert famos. Aber das ist nur ein geringer Teil seiner Aufgabe, die im allgemeinen darin besteht, Beschützer und Versorger meiner Tochter zu sein, die ganz besonders ungeeignet ist, für sich selbst zu sorgen. Und in dieser Beziehung genügt er mir nicht. Ich gebe zu, daß ich nichts weiter habe, wonach ich mich richten kann, als meinen Eindruck von ihm; aber ich pflege meinem Eindruck zu vertrauen. Natürlich steht es Ihnen frei, dem rundheraus zu widersprechen. Er kommt mir selbstsüchtig und oberflächlich vor.«
    Mrs. Montgomery machte ein wenig größere Augen, und der Doktor vermeinte, das Aufleuchten von Bewunderung darin zu erblicken. »Ich bin erstaunt, wie Sie herausgefunden haben, daß er selbstsüchtig ist«, rief sie.
    »Finden Sie, er verbirgt es so gut?«
    »Allerdings, sehr gut«, sagte Mrs. Montgomery. »Und ich glaube, wir sind alle ziemlich selbstsüchtig«, setzte sie schnell hinzu.
    »Das glaube ich auch; aber ich habe Leute kennengelernt, die es besser verbargen als er. Sehen Sie, mir hilft meine Gewohnheit, die Leute in Kategorien, in Typen einzuteilen. Ich kann mich bei Ihrem Bruder als einem Individuum leicht irren, aber seine gesamte Person ist von seinem Typ geprägt.«
    »Er sieht sehr gut aus«, sagte Mrs. Montgomery.
    |113| Der Doktor betrachtete sie einen Moment lang. »Ihr Frauen seid doch alle gleich! Aber der Typ, dem Ihr Bruder angehört, ist dazu geschaffen, euch zugrunde zu richten, und ihr seid dazu geschaffen, seine Mägde und Opfer zu sein. Das Kennzeichen des fraglichen Typs ist die Entschlossenheit – mitunter furchtbar in ihrer verborgenen Intensität –, sich ausschließlich den angenehmen Seiten des Lebens hinzugeben und sie sich hauptsächlich mit Hilfe Ihres willfährigen Geschlechts zu sichern. Junge Männer dieser Kategorie tun nie etwas selbst, was sie dadurch bekommen können, daß andere es für sie tun, und die Verblendung, die Ergebenheit, der Aberglaube anderer läßt sie so weitermachen. Diese andern sind in neunundneunzig von hundert Fällen Frauen. Worauf unsere jungen Freunde hauptsächlich bestehen, ist, daß jemand anders für sie leide; und Frauen verstehen sich auf so etwas, wie Sie ja wissen müssen, ganz erstaunlich gut.« Der Doktor machte eine kleine Pause und setzte dann unvermittelt hinzu: »Sie haben unermeßlich für Ihren Bruder gelitten!«
    Dieser Ausruf kam, wie gesagt, unvermittelt, war aber ganz genau berechnet. Der Doktor war ziemlich enttäuscht gewesen, daß er seine mollige und komfortable Gastgeberin nicht sichtbarer von den Verheerungen durch Morris Townsends Immoralität umgeben fand; aber er hatte sich gesagt, es sei wohl nicht darauf zurückzuführen, daß der junge Mann sie verschont hatte, sondern daß sie es zustande gebracht hatte, ihre Wunden mit Pflastern zu verschließen. Doch immer noch schmerzten sie da hinter dem polierten Ofen, den mit Laubgewinden umgebenen Kupferstichen, unter ihrem gefälligen kleinen Popelinekleidbusen; und wenn er nur den wunden Punkt treffen könnte, würde sie eine Bewegung machen, |114| die sie verriete. Die eben von mir angeführten Worte waren ein Versuch, den Finger unvermittelt auf diese Stelle zu legen, und sie hatten teilweise den Erfolg, den er erwartet hatte. Einen Moment lang traten Tränen in Mrs. Montgomerys Augen, und sie gestattete sich ein kleines stolzes Zurückwerfen des Kopfes.
    »Ich weiß nicht, wie Sie das herausgefunden haben!« rief sie aus.
    »Durch einen philosophischen Kunstgriff – etwas, das man Induktion nennt. Sie wissen, daß Sie immer die Möglichkeit haben, mir zu widersprechen. Aber seien Sie so freundlich, mir eine Frage zu beantworten: Geben Sie denn nicht Ihrem Bruder Geld? Ich meine, darauf sollten Sie antworten.«
    »Ja, ich habe ihm Geld gegeben«, sagte Mrs. Montgomery.
    »Und Sie haben ihm nicht viel geben können?«
    Sie schwieg einen Augenblick. »Wenn Sie ein Geständnis meiner Armut von mir haben wollen, so ist das leicht getan. Ich bin sehr arm.«
    »Das würde man nie annehmen, Ihrem – Ihrem reizenden Haus nach zu schließen«, sagte der Doktor. »Ich habe von meiner Schwester erfahren, daß Ihr Einkommen bescheiden und Ihre Familie groß ist.«
    »Ich habe fünf Kinder«, stellte Mrs. Montgomery fest, »doch ich kann glücklicherweise sagen, daß es mir möglich ist, sie ordentlich aufzuziehen.«
    »Selbstverständlich

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