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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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können Sie das – gewandt und hingebungsvoll wie Sie sind. Aber Ihr Bruder hat sie alle nachgezählt, nehme ich an?«
    »Nachgezählt?«
    »Er weiß, daß es fünf sind, meine ich. Er sagte mir, daß er es sei, der sie erzieht.«
    |115| Mrs. Montgomery starrte ihn einen Moment an, dann sagte sie rasch: »O ja, er unterrichtet sie in – Spanisch.«
    Der Doktor mußte lachen. »Das nimmt Ihnen ja ungeheuer viel Mühe ab! Ihr Bruder weiß natürlich auch, daß Sie sehr wenig Geld haben?«
    »Das habe ich ihm oft gesagt«, rief Mrs. Montgomery, weniger zurückhaltend als sie bisher gesprochen hatte. Sie schöpfte offensichtlich Trost aus der Hellsichtigkeit des Doktors.
    »Das heißt, daß Sie häufig Gelegenheit dazu haben und daß er häufig bei Ihnen schmarotzt. Verzeihen Sie, daß ich mich so grob ausdrücke, ich nenne nur einfach die Sache beim Namen. Ich frage nicht, wieviel von Ihrem Geld er bekommen hat, das geht mich nichts an. Ich habe in Erfahrung gebracht, was ich argwöhnte – was ich wünschte.« Und der Doktor erhob sich, wobei er seinen Hut leicht glattstrich. »Ihr Bruder lebt auf Ihre Kosten«, sagte er, als er aufgestanden war.
    Mrs. Montgomery fuhr eilig von ihrem Stuhl auf und verfolgte dabei die Bewegungen ihres Besuchers mit gebanntem Blick. Doch dann sagte sie mit einer gewissen Inkonsequenz: »Ich habe mich niemals über ihn beklagt.«
    »Sie brauchen nichts zu beteuern – Sie haben ihn nicht verraten. Aber ich möchte Ihnen raten, ihm kein Geld mehr zu geben.«
    »Sehen Sie nicht, wie es in meinem Interesse ist, daß er eine reiche Frau heiratet?« fragte sie. »Wenn er, wie Sie sagen, auf meine Kosten lebt, kann ich nur wünschen, ihn loszuwerden; und seinen Heiratsabsichten Hindernisse in den Weg zu legen bedeutet, meine eigenen Schwierigkeiten zu vergrößern.«
    »Ich wünschte sehr, Sie würden mit Ihren Schwierigkeiten zu mir kommen«, sagte der Doktor. »Wenn ich |116| ihn schon weiterhin Ihnen aufbürde, dann ist es gewiß das mindeste, was ich tun kann, Ihnen behilflich zu sein, diese Bürde zu tragen. Wenn Sie mir das zu sagen gestatten, werde ich so frei sein, Ihnen einstweilen einen gewissen Betrag für den Unterhalt Ihres Bruders zu überlassen.«
    Mrs. Montgomery machte große Augen; sie dachte offenbar, er würde sich einen Spaß erlauben, aber sie merkte alsbald, daß das nicht der Fall war, und die Verwirrung ihrer Gefühle wurde quälend. »Ich habe den Eindruck, daß ich mich von Ihnen sehr beleidigt fühlen sollte«, murmelte sie.
    »Weil ich Ihnen Geld angeboten habe? Das ist eine irrige Ansicht«, sagte der Doktor. »Sie müssen mir gestatten wiederzukommen, und dann unterhalten wir uns über diese Dinge. Ich nehme an, einige Ihrer Kinder sind Mädchen?«
    »Ich habe zwei kleine Mädchen«, sagte Mrs. Montgomery.
    »Nun, wenn sie erwachsen werden und daran denken, einen Mann zu nehmen, werden Sie sehen, wie besorgt Sie um die moralischen Qualitäten dieser Ehemänner sein werden. Dann können Sie diesen Besuch von mir verstehen.«
    »Ach, Sie dürfen nicht glauben, Morris habe einen schlechten Charakter.«
    Der Doktor sah sie mit verschränkten Armen flüchtig an. »Etwas hätte ich äußerst gern – als moralische Genugtuung. Ich möchte Sie gern sagen hören: ›Er ist scheußlich selbstsüchtig‹.«
    Diese Worte kamen mit der gewichtigen Deutlichkeit seiner Stimme heraus, und einen Augenblick lang schienen sie in der beunruhigten Phantasie der armen |117| Mrs. Montgomery materielle Gestalt anzunehmen. Sie starrte einen Moment auf das Bild ihrer Phantasie und wandte sich dann ab. »Sie machen mich unglücklich, Sir!« rief sie. »Schließlich ist er mein Bruder. Und seine Fähigkeiten, seine Fähigkeiten –.« Bei diesen letzten-Worten zitterte ihre Stimme und ehe er sich’s versah, war sie in Tränen ausgebrochen.
    »Seine Fähigkeiten sind erstklassig«, sagte der Doktor. »Wir müssen ein geeignetes Betätigungsfeld für sie finden.« Und er versicherte sie höchst ehrerbietig seines Bedauerns darüber, daß er sie so sehr beunruhigt habe. »Es ist alles meiner armen Catherine zuliebe«, fuhr er fort. »Sie müssen sie kennenlernen, und sie werden es verstehen.«
    Mrs. Montgomery wischte sich die Tränen ab und errötete darüber, sie vergossen zu haben. »Ich würde Ihre Tochter gern kennenlernen«, erwiderte sie und rief dann ganz plötzlich: »Lassen Sie nicht zu, daß sie ihn heiratet!«
    Dr. Sloper ging und leise klangen ihm noch die Worte in den Ohren:

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