Washington Square
sicher großes Interesse an ihr gewinnen. Ich meine nicht, weil sie ein interessantes Mädchen im üblichen Sinn des Wortes ist, sondern weil sie Ihnen leid täte. Sie ist so sanft, so arglos, sie wäre ein so leichtes Opfer. Ein schlechter Ehemann hätte ungeahnte Möglichkeiten, sie unglücklich zu machen; denn sie würde weder über die geistige Wendigkeit noch über die Entschlossenheit verfügen, ihm Herr zu werden, wogegen sie eine übermäßig hohe Leidensfähigkeit besitzt. Ich sehe«, fügte der Doktor mit seinem einschmeichelndsten, seinem professionellsten Lächeln hinzu, »Sie sind bereits interessiert.«
»Ich war bereits seit dem Moment interessiert, als er mir erzählte, er sei verlobt«, sagte Mrs. Montgomery.
»Ach, das sagt er – er bezeichnet es als eine Verlobung?«
»Oh, er hat mir schon erzählt, daß Sie nicht damit einverstanden sind.«
»Hat er Ihnen auch gesagt, daß ich mit
ihm
nicht einverstanden bin?«
|110| »Ja, auch das hat er mir erzählt. Ich sagte, ich könne da nicht helfen«, setzte Mrs. Montgomery hinzu.
»Natürlich können Sie das nicht. Aber Sie können folgendes tun: nämlich mir sagen, daß ich recht habe – mir sozusagen ein Attest ausstellen.« Und der Doktor begleitete diese Bemerkung mit einem weiteren professionellen Lächeln.
Mrs. Montgomery hingegen lächelte überhaupt nicht; es war unverkennbar, daß sie seine Bitte nicht aus humorvoller Sicht aufnehmen konnte. »Das ist sehr viel verlangt«, sagte sie schließlich.
»Daran kann es gar keinen Zweifel geben, und ich muß Sie gewiß an die Vorteile erinnern, die ein junger Mann, der meine Tochter heiratet, genießen würde. Sie hat ein unabhängiges Einkommen von 10 000 Dollar, das ihr von ihrer Mutter hinterlassen wurde; wenn sie einen Mann heiratet, mit dem ich einverstanden bin, erhält sie nach meinem Tod fast doppelt soviel.«
Mrs. Montgomery lauschte dieser glänzenden finanziellen Darlegung mit großer Ernsthaftigkeit; sie hatte noch nie über Tausende von Dollar so zwanglos reden hören. Vor Erregung wurde sie ein wenig rot. »Ihre Tochter wird unermeßlich reich sein«, sagte sie leise.
»Genau – das ist das Ärgerliche daran.«
»Und wenn Morris sie heiraten sollte, dann – dann –«, und sie zögerte ängstlich.
»Dann würde er also Herr über all dieses Geld? Keineswegs. Er würde Herr über die Zehntausend im Jahr, die sie von ihrer Mutter hat; aber jeden Pfennig meines Vermögens, verdient in mühevoller Berufsausübung, würde ich meinen Neffen und Nichten hinterlassen.«
Mrs. Montgomery senkte bei diesen Worten ihren |111| Blick und saß einige Zeit da, auf die Strohmatte starrend, die ihren Fußboden bedeckte.
»Ich glaube, Sie haben den Eindruck«, sagte der Doktor lachend, »daß ich Ihrem Bruder damit einen recht schäbigen Streich spielen würde.«
»Ganz und gar nicht. Das ist zu viel Geld, um es so einfach durch Heirat bekommen zu dürfen. Ich glaube nicht, daß das recht wäre.«
»Es ist recht, alles, was man kriegen kann, in Besitz zu nehmen. Aber in diesem Fall wäre es Ihrem Bruder nicht möglich. Wenn Catherine ohne meine Zustimmung heiratet, bekommt sie auch nicht einen Pfennig aus meiner Tasche.«
»Ist das sicher?« fragte Mrs. Montgomery aufblickend.
»So sicher, wie ich hier sitze.«
»Selbst wenn sie vor Kummer vergehen sollte?«
»Selbst wenn sie zu einem Schatten würde, was recht unwahrscheinlich ist.«
»Weiß Morris das?«
»Es wird mir ein Vergnügen sein, ihm das mitzuteilen«, rief der Doktor aus.
Mrs. Montgomery nahm ihre Überlegungen wieder auf, und ihr Besucher, der bereit war, sich für die Angelegenheit Zeit zu lassen, fragte sich, ob sie nicht trotz ihrem etwas gewissenhaften Gebaren, ihrem Bruder in die Hand spiele. Gleichzeitig schämte er sich auch wieder wegen der schweren Prüfung, der er sie unterworfen hatte, und war gerührt von der Sanftmut, mit der sie das ertrug. ›Wenn sie eine Schwindlerin wäre‹, sagte er sich, ›würde sie ärgerlich werden, es sei denn, sie wäre sehr listig. Aber es ist unwahrscheinlich, daß sie derart listig ist.‹
»Warum haben Sie eine so große Abneigung gegen |112| Morris?« fragte sie unvermittelt, aus ihren Gedanken auftauchend.
»Ich habe nicht das Geringste gegen ihn als Freund, als Gefährten. Er scheint mir ein reizender Kerl zu sein, und ich könnte ihn mir als ausgezeichneten Umgang vorstellen. Ich mißbillige ihn ausschließlich als Schwiegersohn. Wenn die einzige Obliegenheit eines
Weitere Kostenlose Bücher