Washington Square
»Lassen Sie nicht zu, daß sie ihn heiratet!« Sie gaben ihm die moralische Genugtuung, von der er eben gesprochen hatte, und ihr Wert war um so größer, als sie offensichtlich der armen kleinen Mrs. Montgomery in ihrem Familienstolz heftigen Schmerz bereitet hatten.
|118| 15. KAPITEL
Die Art, wie Catherine sich verhielt, war ihm rätselhaft; ihre Haltung in dieser Gefühlskrise kam ihm unnatürlich passiv vor. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen seit jener Szene in der Bibliothek, am Tag vor seiner Unterredung mit Morris; und eine Woche war verstrichen, ohne daß sich in ihrem Verhalten irgend etwas geändert hatte. Nichts daran appellierte ans Mitleid, und er war sogar ein wenig enttäuscht darüber, daß sie ihm keine Gelegenheit gab, seine Härte wiedergutzumachen durch ein Zeichen von Großzügigkeit, das zur Entschädigung hätte dienen können. Er dachte vorübergehend an den Vorschlag, sie auf eine Europareise mitzunehmen; aber er war entschlossen, das nur in dem Fall zu tun, daß sie ihm stumme Vorhaltungen machen sollte. Er hatte den Eindruck, daß sie ein Talent für stumme Vorhaltungen zeigen würde, und war überrascht, daß er diesen stillschweigenden Angriffen nicht ausgesetzt war. Sie äußerte nichts, weder durch Schweigen noch mit Worten, und da sie nie sehr gesprächig war, lag auch jetzt nichts außergewöhnlich Aussagekräftiges in ihrer Zurückhaltung. Und die arme Catherine schmollte auch nicht – ein Verhaltensstil, für den sie zu wenig schauspielerisches Talent hatte –; sie war ganz einfach sehr geduldig. Natürlich machte sie sich Gedanken über ihre Lage, und das tat sie offensichtlich mit Bedacht und ohne Leidenschaft, mit der Absicht, das Beste daraus zu machen.
»Sie wird tun, was ich ihr geboten habe«, sagte sich |119| der Doktor, und er stellte die weitere Überlegung an, daß seine Tochter keine Frau von großem Temperament sei.
Ich weiß nicht, ob er sich etwas Widerstand erhofft hatte, um ein wenig mehr Unterhaltung zu bekommen; doch er sagte sich wie bereits früher, daß Vaterschaft, obgleich sie ihre flüchtigen Beunruhigungen haben konnte, letzten Endes keine aufregende Beschäftigung sei.
Catherine hatte mittlerweile eine Entdeckung ganz anderer Art gemacht; es war ihr klar geworden, daß das Bemühen, eine gute Tochter zu sein, mit beträchtlicher Aufregung verbunden war. Sie hatte ein völlig neues Gefühl, das man als einen Zustand erwartungsvoller Spannung im Hinblick auf ihre eigenen Handlungen beschreiben könnte. Sie beobachtete sich selbst, als würde sie eine andere Person beobachten, und fragte sich, was sie wohl tun werde. Es war, als sei diese andere Person, die sowohl sie selbst war als auch nicht sie selbst, ganz plötzlich ins Dasein getreten und habe sie natürlicherweise mit einer Neugierde erfüllt, in bezug auf die Ausführung noch unerprobter Verhaltensmöglichkeiten.
»Ich freue mich, eine so wohlerzogene Tochter zu haben«, sagte ihr Vater, nachdem mehrere Tage vergangen waren, und küßte sie.
»Ich versuche, wohlerzogen zu sein«, erwiderte sie und wandte sich mit einem nicht völlig reinen Gewissen ab.
»Wenn du mir irgend etwas sagen möchtest, kannst du es, wie du weißt, ohne Zögern tun. Du brauchst dich nicht verpflichtet fühlen, so schweigsam zu sein. Ich habe nicht gerade Interesse daran, daß Mr. Townsend ein häufiger Gesprächsgegenstand wird, doch immer wenn du irgend etwas Besonderes über ihn zu sagen hast, werde ich es sehr gern erfahren.«
|120| »Danke«, sagte Catherine, »im Augenblick habe ich nichts Besonderes.«
Er fragte sie nie, ob sie Morris wieder getroffen habe, weil er sich gewiß war, daß sie es ihm sagen würde, wenn das der Fall gewesen wäre. Sie hatte ihn tatsächlich nicht getroffen, sondern ihm lediglich einen langen Brief geschrieben. Zumindest für sie war der Brief sehr lang, und man könnte hinzufügen, daß er auch für Morris lang war; er bestand aus fünf Seiten in bemerkenswert formschöner und gefälliger Schrift. Catherines Handschrift war wundervoll, und sie war sogar ein wenig stolz darauf; sie liebte es außerordentlich, Abschriften anzufertigen, und besaß ganze Bände von Auszügen, die diese Fertigkeit bestätigten, Bände, die sie eines Tages ihrem Liebhaber vorgeführt hatte, als die Wonne des Gefühls, daß sie in seinen Augen Bedeutung hatte, ungewöhnlich heftig war. In ihrem Brief teilte sie Morris mit, daß ihr Vater den Wunsch geäußert habe, sie solle ihn nicht
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