Washington Square
wiedersehen, und daß sie ihn bitte, nicht mehr ins Haus zu kommen, ehe sie sich »klar geworden« sei. Morris antwortete mit einer leidenschaftlichen Epistel, in der er sie fragte, worüber sie sich denn um Himmels willen klarwerden wolle. War sie sich denn nicht vor zwei Wochen klargeworden, und könnte es die Möglichkeit sein, daß sie die Absicht habe, ihn zu verstoßen? Wolle sie etwa gerade am Beginn ihrer schweren Prüfung klein beigeben nach all den Versicherungen von Treue, die sie ihm gegeben wie auch ihm abgenommen habe? Und er gab einen Bericht von seiner Unterredung mit ihrem Vater – einen Bericht, der mit dem auf diesen Seiten vorgelegten nicht in allen Punkten übereinstimmte. »Er wurde furchtbar heftig«, schrieb Morris, »aber Du kennst ja meine Selbstbeherrschung. Ich habe sie nur zu sehr |121| nötig, wenn ich bedenke, daß es in meiner Macht steht, in Deine grausame Gefangenschaft einzubrechen.« Catherine sandte ihm als Antwort ein Briefchen mit drei Zeilen: »Ich befinde mich in einer höchst schwierigen Lage; zweifle nicht an meiner Zuneigung, aber laß mich noch ein wenig warten und nachdenken.« Der Gedanke an eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater, daran, ihren Willen gegen den seinen setzen zu müssen, lastete schwer auf ihrer Seele und ließ sie sich still verhalten, so wie uns ein gewaltiges materielles Gewicht bewegungsunfähig macht. Es kam ihr nie in den Sinn, ihren Liebhaber zu verstoßen; doch von Anfang an suchte sie sich damit zu beruhigen, daß es einen gütlichen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten geben würde. Diese Beruhigung war recht vage, denn sie enthielt keinerlei Voraussetzung für die positive Überzeugung, daß ihr Vater seine Meinung ändern werde. Sie hatte lediglich die Vorstellung, wenn sie sich wohlerzogen verhielte, würde sich die Lage auf eine geheimnisvolle Weise verbessern. Um sich wohlerzogen zu verhalten, mußte sie geduldig, nach außen hin fügsam sein, vermeiden, ihren Vater allzu hart zu verurteilen und jeden Versuch von offenem Widerstand unterlassen. Womöglich hatte er letzten Endes recht mit seiner Ansicht; womit Catherine nicht im geringsten meinte, seine Verurteilung von Morris’ Motiven bei seinem Bestreben, sie zu heiraten, sei vielleicht gerechtfertigt, sondern es sei wahrscheinlich natürlich und angemessen, wenn gewissenhafte Eltern argwöhnisch, ja selbst ungerecht sein könnten. Wahrscheinlich gab es auf dieser Welt Leute, die so schlecht waren, wie ihr Vater dies von Morris annahm, und wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, daß Morris eine dieser unheilvollen Gestalten sein sollte, hatte der Doktor recht, es in |122| Betracht zu ziehen. Natürlich konnte er nicht wissen, was sie wußte – wie die reinste Liebe und Treue aus den Augen des jungen Mannes sprach; doch der Himmel könnte zu seiner Zeit den rechten Weg bestimmen, der ihn zu dieser Erkenntnis brächte. Catherine erwartete eine ganze Menge vom Himmel und überließ, wie die Franzosen sagen, den höheren Mächten die Initiative, sich mit ihrem Dilemma zu befassen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie selbst ihrem Vater irgendeine Kunde mitzuteilen vermochte; es lag etwas Überlegenes selbst in seiner Ungerechtigkeit und etwas Absolutes in seinen Irrtümern. Aber sie konnte zumindest wohlerzogen sein, und wenn sie nur hinreichend wohlerzogen wäre, würde der Himmel schon einen Weg finden, daß alles in Einklang käme – die Würde in den Irrtümern ihres Vaters und die Süße ihres Vertrauens, die strikte Erfüllung ihrer Tochterpflichten und der Genuß der Zuneigung Morris Townsends.
Die arme Catherine hätte gern Mrs. Penniman als Mittel zur Erleuchtung angesehen, eine Rolle, die zu spielen diese Dame indes unzureichend gerüstet war. Mrs. Penniman fühlte allzuviel Befriedigung durch die empfindsamen Schatten, die dieses kleine Drama warf, um im Augenblick großes Interesse daran zu haben, sie aufzulösen. Sie wünschte, die Situation möge sich zuspitzen, und der Rat, den sie ihrer Nichte erteilte, führte nach ihrer Vorstellung dazu, dieses Ergebnis zu erzielen. Es war ein Rat voll ziemlicher Widersprüche, und von einem Tag zum andern strafte er sich Lügen. Doch er war durchdrungen von dem ernsthaften Verlangen, daß Catherine etwas Außerordentliches tun müsse. »Du mußt
handeln,
meine Liebe; in deiner Situation ist es das Gegebene zu handeln«, sagte Mrs. Penniman, die |123| fand, daß ihre Nichte die sich bietenden Gelegenheiten nicht
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