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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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die Spur intelligenter. Während der ganzen Zeit, in der wir unterwegs waren, hat sie weder Stock noch Stein beachtet – weder ein Gemälde noch eine Aussicht, kein Standbild und keinen Dom.«
    »Wie hätte sie auch darauf achten können? Sie hat an anderes zu denken gehabt. Sie geht mir sehr nahe.«
    |212| »Mir würde sie auch nahe gehen, wenn sie mich nicht so aufbrächte. Diese Wirkung hat sie jetzt auf mich. Ich habe alles mit ihr versucht; ich bin wirklich völlig erbarmungslos gewesen. Aber es nützt überhaupt nichts; sie
klebt
vollkommen fest. Als Folge davon bin ich in einen Zustand der Erbitterung geraten. Zunächst hatte ich sehr viel von einer ganz bestimmten anregenden Neugierde dafür; ich wollte sehen, ob sie tatsächlich hängenbleiben würde. Aber, du liebe Zeit, jede Neugierde ist einmal befriedigt! Ich sehe jetzt, daß sie dazu in der Lage ist, da kann sie ihn doch laufen lassen.«
    »Sie wird niemals aufgeben«, sagte Mrs. Almond.
    »Nimm dich in acht, oder du bringst mich auch noch auf. Wenn sie nicht aufgibt, wird sie abgeschüttelt – zur Erde geschleudert. Eine reizende Lage für meine Tochter ist das. Sie kann nicht einsehen, daß es besser ist zu springen, wenn einem bevorsteht, gestoßen zu werden. Und dann wird sie über ihre Quetschungen klagen.«
    »Sie wird niemals klagen«, sagte Mrs. Almond.
    »Das geht mir noch mehr gegen den Strich. Aber das Verdammte ist, daß ich nichts verhindern kann.«
    »Wenn sie schon fallen muß«, sagte Mrs. Almond mit einem wohlmeinenden Lachen, »müssen wir so viele Teppiche wie nur möglich auslegen.« Und sie führte dieses Vorhaben aus, indem sie dem Mädchen recht viel mütterliche Güte erwies.
    Mrs. Penniman schrieb ungesäumt an Morris Townsend. Die enge Freundschaft zwischen diesen beiden war unterdessen unverbrüchlich; aber ich muß mich darauf beschränken, lediglich ein paar ihrer charakteristischen Züge zu erwähnen. Mrs. Pennimans Anteil daran bestand in einem ungewöhnlichen Gefühl, das leicht falsch zu deuten gewesen wäre, aber den Ruf der armen Frau |213| nicht beeinträchtigte. Es handelte sich um eine romantische Anteilnahme an diesem attraktiven und vom Unglück verfolgten jungen Mann, und doch war es keine Anteilnahme der Art, worauf Catherine hätte eifersüchtig sein können. Mrs. Penniman selbst war keine Spur eifersüchtig auf ihre Nichte. Ihre Gefühle gegenüber Morris waren für sie so, als wäre sie seine Mutter oder Schwester – eine Mutter oder Schwester von gefühlsbetontem Charakter –, und der Wunsch, der sie völlig erfüllte, bestand darin, ihm das Leben angenehm und glücklich zu machen. In dem Jahr, in dem ihr von ihrem Bruder freie Hand gelassen worden war, hatte sie das angestrebt, und ihre Bemühungen hatten zu dem bereits erwähnten Erfolg geführt. Sie hatte selbst nie ein Kind gehabt, und Catherine, der sie nach besten Möglichkeiten die Bedeutung verliehen hatte, die naturgemäß einer jungen Penniman zugekommen wäre, hatte ihr diesen Eifer nur zum Teil vergolten. Catherine hatte als Gegenstand von Zuneigung und Fürsorglichkeit niemals jenen lebhaften Charme besessen, der (ihrer Ansicht nach) eine angeborene Eigenschaft ihrer eigenen Nachkommen gewesen wäre. Selbst leidenschaftliche Mutterliebe hätte bei Mrs. Penniman romantisch und gekünstelt gewirkt, und Catherine war nicht dazu geschaffen, eine romantische Leidenschaft hervorzurufen. Mrs. Penniman hatte ihre Nichte nach wie vor lieb, doch allmählich war in ihr das Gefühl aufgekommen, bei Catherine habe sie nicht genug Gelegenheit. Rein was das Gefühl betrifft, hatte sie (wenngleich sie ihre Nichte keineswegs enterbt hatte) daher Morris Townsend adoptiert, der ihr die Gelegenheit im Übermaß bot. Sie wäre überaus glücklich gewesen, einen hübschen und tyrannischen Sohn zu haben, und hätte äußerste Anteilnahme an seinen Liebesaffären |214| genommen. Sie war dazu gelangt, in diesem Licht Morris zu sehen, der sie anfangs für sich eingenommen und sie beeindruckt hatte durch seine geschickte und wohlberechnete Ehrerbietung – eine Art von Verhalten, auf die Mrs. Penniman ganz besonders ansprach. Später hatte er seine Ehrerbietung bedeutend vermindert, denn er ging mit seinen Mitteln haushälterisch um, doch der Eindruck war entstanden, und gerade die Brutalität des jungen Mannes gab ihm in gewissem Sinn Bedeutung als Sohn. Wenn Mrs. Penniman einen Sohn gehabt hätte, würde ihr wahrscheinlich bange vor ihm gewesen sein, und in diesem

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